Präambel RL 2013/32/EU

DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION —

gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 78 Absatz 2 Buchstabe d,

auf Vorschlag der Europäischen Kommission,

nach Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses(1),

nach Anhörung des Ausschusses der Regionen,

gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren(2),

in Erwägung nachstehender Gründe:

(1)
Die Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft(3) ist in wesentlichen Punkten zu ändern. Aus Gründen der Klarheit empfiehlt es sich, eine Neufassung dieser Richtlinie vorzunehmen.
(2)
Eine gemeinsame Asylpolitik einschließlich eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist wesentlicher Bestandteil des Ziels der Europäischen Union, schrittweise einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufzubauen, der allen offen steht, die wegen besonderer Umstände rechtmäßig in der Union um Schutz nachsuchen. Für eine solche Politik sollte der Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten, einschließlich in finanzieller Hinsicht, gelten.
(3)
Der Europäische Rat ist auf seiner Sondertagung vom 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere übereingekommen, auf ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem hinzuwirken, das sich auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung des Genfer Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 in der Fassung des New Yorker Protokolls vom 31. Januar 1967 (im Folgenden „Genfer Flüchtlingskonvention” ) stützt, damit der Grundsatz der Nichtzurückweisung gewahrt bleibt und niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist.
(4)
Nach den Schlussfolgerungen von Tampere sollte ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem auf kurze Sicht gemeinsame Standards für ein gerechtes und wirksames Asylverfahren in den Mitgliedstaaten umfassen; auf längere Sicht sollten die Regeln der Union zu einem gemeinsamen Asylverfahren in der Union führen.
(5)
Die erste Phase des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems wurde mit Erlass der in den Europäischen Verträgen vorgesehenen einschlägigen Rechtsinstrumente wie der Richtlinie 2005/85/EG abgeschlossen, die eine erste Maßnahme im Bereich der Asylverfahren darstellte.
(6)
Der Europäische Rat hatte auf seiner Tagung vom 4. November 2004 das Haager Programm angenommen, das die Ziele für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts vorgab, die im Zeitraum von 2005 bis 2010 erreicht werden sollten. Im Haager Programm wurde die Europäische Kommission in dieser Hinsicht aufgefordert, die Bewertung der Rechtsakte aus der ersten Phase abzuschließen und dem Europäischen Parlament und dem Rat die Rechtsakte und Maßnahmen der zweiten Phase vorzulegen. Dem Haager Programm zufolge soll im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ein gemeinsames Asylverfahren und ein unionsweit geltender einheitlicher Schutzstatus geschaffen werden.
(7)
Im Europäischen Pakt zu Einwanderung und Asyl, der am 16. Oktober 2008 angenommen wurde, stellte der Europäische Rat fest, dass zwischen den Mitgliedstaaten weiterhin beträchtliche Unterschiede bei der Gewährung von Schutz bestehen, und regte neue Initiativen an, darunter einen Vorschlag zur Einführung eines einheitlichen Asylverfahrens mit gemeinsamen Garantien, um die Einführung des im Haager Programm vorgesehenen Gemeinsamen Europäischen Asylsystems zu vollenden.
(8)
Auf seiner Tagung vom 10. und 11. Dezember 2009 nahm der Europäische Rat das Stockholmer Programm an, in dem wiederholt die Verpflichtung auf das Ziel betont wird, bis spätestens 2012 auf der Grundlage eines gemeinsamen Asylverfahrens und eines einheitlichen Status für Personen, denen internationaler Schutz gewährt wird, einen gemeinsamen Raum des Schutzes und der Solidarität zu schaffen, der auf hohen Schutzstandards und fairen, wirksamen Verfahren beruht. Das Stockholmer Programm bekräftigte, dass Menschen, die internationalen Schutz benötigen, der Zugang zu rechtlich gesicherten und effizienten Asylverfahren zu gewährleisten ist. In Übereinstimmung mit dem Stockholmer Programm sollten Einzelpersonen unabhängig davon, in welchem Mitgliedstaat sie ihren Antrag auf internationalen Schutz stellen, eine gleichwertige Behandlung hinsichtlich des Verfahrens und der Bestimmung des Schutzstatus erfahren. Das Ziel ist, dass ähnliche Fälle in gleicher Weise behandelt werden und zu dem gleichen Ergebnis führen.
(9)
Die Bemühungen der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der für die zweite Phase des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems vorgegebenen Schutzstandards, insbesondere die Bemühungen der Mitgliedstaaten, deren Asylsystem vor allem aufgrund ihrer geografischen oder demografischen Lage einem besonderen und unverhältnismäßigen Druck ausgesetzt ist, sollten mit Mitteln des Europäischen Flüchtlingsfonds und des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO)in geeigneter Weise unterstützt werden.
(10)
Die Mitgliedstaaten sollten bei der Umsetzung dieser Richtlinie den entsprechenden Leitlinien des EASO Rechnung tragen.
(11)
Um eine umfassende und effiziente Bewertung des Bedürfnisses der Antragsteller nach internationalem Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes(4) zu gewährleisten, sollte der Unionsrahmen für Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung internationalen Schutzes auf dem Konzept eines einheitlichen Asylverfahrens beruhen.
(12)
Hauptziel dieser Richtlinie ist die Weiterentwicklung der Normen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung internationalen Schutzes im Hinblick auf die Einführung eines gemeinsamen Asylverfahrens in der Union.
(13)
Die Angleichung der Rechtsvorschriften über die Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung internationalen Schutzes soll dazu beitragen, die Sekundärmigration von Antragstellern zwischen Mitgliedstaaten, soweit sie auf rechtliche Unterschiede zurückzuführen ist, einzudämmen, und gleiche Bedingungen für die Anwendung der Richtlinie 2011/95/EU in den Mitgliedstaaten zu schaffen.
(14)
Die Mitgliedstaaten sollten die Befugnis haben, günstigere Regelungen für Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die um internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat ersuchen, einzuführen oder beizubehalten, wenn davon ausgegangen werden kann, dass ein solcher Antrag von einer Person gestellt wird, die internationalen Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU benötigt.
(15)
In Bezug auf die Behandlung von Personen, die unter diese Richtlinie fallen, sind die Mitgliedstaaten an ihre Verpflichtungen aus den völkerrechtlichen Instrumenten gebunden, denen sie beigetreten sind.
(16)
Es ist von entscheidender Bedeutung, dass sämtliche Entscheidungen über Anträge auf internationalen Schutz auf der Grundlage von Tatsachen ergehen und erstinstanzlich von Behörden getroffen werden, deren Bedienstete über angemessene Kenntnisse in Fragen des internationalen Schutzes verfügen oder die hierzu erforderliche Schulung erhalten haben.
(17)
Um sicherzustellen, dass die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz und die Entscheidungen darüber objektiv und unparteiisch erfolgen, ist es notwendig, dass Fachkräfte, die im Rahmen der Verfahren nach dieser Richtlinie tätig sind, ihre Tätigkeit unter gebührender Achtung der geltenden berufsethischen Grundsätze ausüben.
(18)
Es liegt im Interesse sowohl der Mitgliedstaaten als auch der Personen, die internationalen Schutz beantragen, dass über die Anträge auf internationalen Schutz so rasch wie möglich, unbeschadet der Durchführung einer angemessenen und vollständigen Prüfung der Anträge, entschieden wird.
(19)
Damit die Gesamtdauer des Verfahrens in bestimmten Fällen verkürzt wird, sollten die Mitgliedstaaten entsprechend ihren nationalen Bedürfnissen die Flexibilität haben, der Prüfung eines Antrags Vorrang vor der Prüfung anderer, früher gestellter Anträge einzuräumen, ohne dabei von den üblicherweise geltenden Fristen, Grundsätzen und Garantien abzuweichen.
(20)
Ist ein Antrag voraussichtlich unbegründet oder bestehen schwerwiegende Bedenken hinsichtlich der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung, sollte es den Mitgliedstaaten unter genau bestimmten Umständen möglich sein, das Prüfungsverfahren unbeschadet der Durchführung einer angemessenen und vollständigen Prüfung und der effektiven Inanspruchnahme der in dieser Richtlinie vorgesehenen wesentlichen Grundsätze und Garantien durch den Antragsteller zu beschleunigen, insbesondere indem kürzere, jedoch angemessene Fristen für bestimmte Verfahrensschritte eingeführt werden.
(21)
Solange ein Antragsteller seinen Antrag rechtfertigen kann, sollte das Fehlen von Dokumenten bei der Einreise oder die Verwendung falscher oder gefälschter Dokumente nicht für sich schon automatisch die Inanspruchnahme eines Grenzverfahrens oder beschleunigten Verfahrens zur Folge haben.
(22)
Es liegt ferner im Interesse der Mitgliedstaaten wie der Antragsteller, dass das Bedürfnis nach internationalem Schutz bereits in der ersten Instanz ordnungsgemäß festgestellt wird. Hierzu sollten die Antragsteller in der ersten Instanz unter Berücksichtigung der besonderen Umstände ihres Falls unentgeltlich über die Rechtslage und das Verfahren informiert werden. Diese Informationen sollten den Antragstellern unter anderem dazu verhelfen, das Verfahren besser zu verstehen, und sie somit dabei unterstützen, den ihnen obliegenden Pflichten nachzukommen. Es wäre unverhältnismäßig, von den Mitgliedstaaten zu verlangen, diese Informationen nur durch fachkundigen Rechtsanwälte bereitzustellen. Die Mitgliedstaaten sollten deshalb die Möglichkeit haben, die geeignetsten Mittel und Wege zu nutzen, um solche Informationen bereitzustellen, zum Beispiel über Nichtregierungsorganisationen oder Fachkräfte von Behörden oder spezialisierte staatliche Stellen.
(23)
Antragsteller sollten in Rechtsbehelfsverfahren unter bestimmten Voraussetzungen unentgeltlich Rechtsberatung und -vertretung durch Personen erhalten, die nach nationalem Recht dazu befähigt sind. Darüber hinaus sollten Antragsteller in allen Phasen des Verfahrens auf eigene Kosten einen Rechtsanwalt oder sonstigen nach nationalem Recht zugelassenen oder zulässigen Rechtsberater konsultieren dürfen.
(24)
Der Begriff „öffentliche Ordnung” kann unter anderem die Verurteilung wegen der Begehung einer schweren Straftat umfassen.
(25)
Im Interesse einer ordnungsgemäßen Feststellung der Personen, die Schutz als Flüchtlinge im Sinne des Artikels 1 der Genfer Flüchtlingskonvention oder als Personen mit Anspruch auf subsidiären Schutz benötigen, sollte jeder Antragsteller effektiven Zugang zu den Verfahren und die Gelegenheit erhalten, mit den zuständigen Behörden zu kooperieren und effektiv mit ihnen zu kommunizieren, um ihnen den ihn betreffenden Sachverhalt darlegen zu können; ferner sollten ausreichende Verfahrensgarantien bestehen, damit er sein Verfahren über sämtliche Instanzen betreiben kann. Außerdem sollte das Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz dem Antragsteller in der Regel zumindest das Recht auf Verbleib bis zur Entscheidung der Asylbehörde einräumen sowie das Recht auf Beiziehung eines Dolmetschers zur Darlegung des Falls bei Anhörung durch die Behörden, die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme mit einem Vertreter des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) und mit Organisationen, die Antragstellern Rechtsberatung oder sonstige Beratungsleistungen anbieten, das Recht auf eine in geeigneter Weise mitgeteilte sowie sachlich und rechtlich begründete Entscheidung, die Möglichkeit zur Hinzuziehung eines Rechtsanwalts oder sonstigen Rechtsberaters, das Recht, in entscheidenden Verfahrensabschnitten in einer Sprache, die der Antragsteller versteht oder von der vernünftigerweise angenommen werden kann, dass er sie versteht, über seine Rechtsstellung informiert zu werden, sowie im Fall einer ablehnenden Entscheidung das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem Gericht.
(26)
Um sicherzustellen, dass das Prüfungsverfahren effektiv in Anspruch genommen werden kann, sollten Bedienstete, die als erste mit Personen in Kontakt kommen, die um internationalen Schutz nachsuchen, insbesondere Bedienstete, die Land- oder Seegrenzen überwachen oder Grenzkontrollen durchführen, einschlägige Informationen und die notwendigen Schulungen erhalten, wie sie Anträge auf internationalen Schutz erkennen können und wie mit solchen Anträgen umzugehen ist, wobei unter anderem den entsprechenden Leitlinien des EASO Rechnung zu tragen ist. Sie sollten in der Lage sein, Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die sich im Hoheitsgebiet einschließlich an der Grenze, in den Hoheitsgewässern oder in den Transitzonen der Mitgliedstaaten befinden und die internationalen Schutz beantragen, relevante Informationen zukommen zu lassen, wo und wie sie förmlich Anträge auf internationalen Schutz stellen können. Befinden sich diese Personen in den Hoheitsgewässern eines Mitgliedstaats, sollten sie an Land gebracht und ihre Anträge nach Maßgabe dieser Richtlinie geprüft werden.
(27)
Da Drittstaatsangehörige und Staatenlose, die ihren Wunsch bekundet haben, internationalen Schutz zu beantragen, Antragsteller darstellen, sollten sie die Pflichten erfüllen und die Rechte genießen, die in dieser Richtlinie und in der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen(5), festgelegt sind. In diesem Zusammenhang sollten die Mitgliedstaaten diese Personen so rasch wie möglich als Antragsteller registrieren.
(28)
Um die Inanspruchnahme des Prüfungsverfahrens an den Grenzübergangsstellen und in den Gewahrsamseinrichtungen zu erleichtern, sollten Informationen über die Möglichkeit, internationalen Schutz zu beantragen, bereitgestellt werden. Sprachmittlungsvorkehrungen sollten getroffen werden, um ein Mindestmaß an Kommunikation zu gewährleisten, damit die zuständigen Behörden verstehen können, ob Personen ihnen gegenüber erklären, dass sie internationalen Schutz beantragen wollen.
(29)
Bestimmte Antragsteller benötigen unter Umständen besondere Verfahrensgarantien, unter anderem aufgrund ihres Alters, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Ausrichtung, ihrer Geschlechtsidentität, einer Behinderung, einer schweren Erkrankung, einer psychischen Störung oder infolge von Folter, Vergewaltigung oder sonstigen schweren Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt. Die Mitgliedstaaten sollten bestrebt sein, Antragsteller, die besondere Verfahrensgarantien benötigen, als solche zu erkennen, bevor eine erstinstanzliche Entscheidung ergeht. Diese Antragsteller sollten eine angemessene Unterstützung erhalten, einschließlich ausreichend Zeit, um die notwendigen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sie das Verfahren effektiv in Anspruch nehmen und die zur Begründung ihres Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Angaben machen können.
(30)
Kann einem Antragsteller, der besondere Verfahrensgarantien benötigt, im Rahmen eines beschleunigten Verfahrens oder eines Grenzverfahrens nicht ausreichend Unterstützung gewährt werden, so sollte dieser Antragsteller von diesen Verfahren ausgenommen werden. Die Notwendigkeit besonderer Verfahrensgarantien, die der Anwendung des beschleunigten Verfahrens oder des Grenzverfahrens entgegenstehen könnten, sollte ferner bedeuten, dass der Antragsteller zusätzliche Garantien erhält, wenn sein Rechtsbehelf nicht automatisch aufschiebende Wirkung hat, damit der Rechtsbehelf unter den besonderen Umständen seines Falles effektiv ist.
(31)
Einzelstaatliche Maßnahmen, die sich auf die Erkennung und Dokumentation von Symptomen und Anzeichen von Folter oder sonstigen schweren Formen physischer oder psychischer Gewalt einschließlich sexueller Gewalt in Verfahren nach Maßgabe dieser Richtlinie beziehen, können sich unter anderem auf das Handbuch für die wirksame Untersuchung und Dokumentation von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (Istanbul-Protokoll) stützen.
(32)
Die Prüfungsverfahren sollten geschlechtsspezifischen Anforderungen Rechnung tragen, um eine tatsächliche Gleichbehandlung weiblicher und männlicher Antragsteller zu gewährleisten. Insbesondere sollten persönliche Anhörungen in einer Weise abgehalten werden, die es weiblichen und männlichen Antragstellern gleichermaßen ermöglicht, über ihre Erfahrungen in Fällen geschlechtsspezifischer Verfolgung zu sprechen. In Verfahren, in denen auf das Konzept des sicheren Drittstaats, das Konzept des sicheren Herkunftsstaats oder den Begriff des Folgeantrags abgestellt wird, sollte der Komplexität geschlechtsspezifisch begründeter Ansprüche angemessen Rechnung getragen werden.
(33)
Bei der Anwendung dieser Richtlinie sollten die Mitgliedstaaten gemäß der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden „Charta” ) und dem Übereinkommen der Vereinten Nationen von 1989 über die Rechte des Kindes das Wohl des Kindes vorrangig berücksichtigen. Bei der Beurteilung des Wohls des Kindes sollten die Mitgliedstaaten insbesondere das Wohlbefinden und die soziale Entwicklung einschließlich des Hintergrunds des Minderjährigen berücksichtigen.
(34)
Die Verfahren zur Prüfung des Bedürfnisses nach internationalem Schutz sollten so gestaltet sein, dass die zuständigen Behörden in die Lage versetzt werden, Anträge auf internationalen Schutz gründlich zu prüfen.
(35)
Wird ein Antragsteller im Rahmen der Bearbeitung eines Antrags durchsucht, so sollte diese Durchsuchung durch eine Person gleichen Geschlechts durchgeführt werden. Eine Durchsuchung aus Sicherheitsgründen auf der Grundlage nationalen Rechts sollte davon unberührt bleiben.
(36)
Stellt der Antragsteller einen Folgeantrag, ohne neue Beweise oder Argumente vorzubringen, so wäre es unverhältnismäßig, die Mitgliedstaaten zur erneuten Durchführung des gesamten Prüfungsverfahrens zu verpflichten. In diesen Fällen sollten die Mitgliedstaaten einen Antrag gemäß dem Grundsatz der rechtskräftig entschiedenen Sache (res iudicata) als unzulässig abweisen können.
(37)
In Bezug auf die Einbeziehung der Bediensteten einer anderen Behörde als der Asylbehörde in die Durchführung von fristgerechten Anhörungen zum Inhalt des Antrags sollte der Begriff „fristgerecht” anhand der in Artikel 31 festgelegten Fristen bewertet werden.
(38)
Viele Anträge auf internationalen Schutz werden an der Grenze oder in Transitzonen eines Mitgliedstaats gestellt, bevor eine Entscheidung über die Einreise des Antragstellers vorliegt. Die Mitgliedstaaten sollten Verfahren zur Prüfung der Zulässigkeit und/oder Begründetheit von Anträgen vorsehen können, die es ermöglichen, unter genau festgelegten Umständen an Ort und Stelle über solche Anträge zu entscheiden.
(39)
Bei der Beurteilung, ob im Herkunftsstaat eines Antragstellers eine Situation der Unsicherheit herrscht, sollten die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass sie genaue und aktuelle Angaben von einschlägigen Quellen wie dem EASO, dem UNHCR, dem Europarat und anderen einschlägigen internationalen Organisationen einholen. Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass eine Verzögerung beim Abschluss des Verfahrens umfassend mit ihren Verpflichtungen nach der Richtlinie 2011/95/EU und Artikel 41 der Charta im Einklang steht, unbeschadet der Effizienz und Fairness der Verfahren nach der vorliegenden Richtlinie.
(40)
Ein entscheidendes Kriterium für die Begründetheit eines Antrags auf internationalen Schutz ist die Sicherheit des Antragstellers in seinem Herkunftsstaat. Kann ein Drittstaat als sicherer Herkunftsstaat betrachtet werden, so sollten die Mitgliedstaaten diesen als sicher bestimmen und von der Vermutung ausgehen können, dass dieser Staat für einen bestimmten Antragsteller sicher ist, sofern Letzterer keine Gegenargumente vorbringt.
(41)
In Anbetracht des Harmonisierungsniveaus, das bei der Feststellung der Eigenschaft von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz erreicht worden ist, sollten gemeinsame Kriterien für die Bestimmung von Drittstaaten als sichere Herkunftsstaaten festgelegt werden.
(42)
Die Bestimmung eines Drittstaates als sicherer Herkunftsstaat im Sinne dieser Richtlinie kann keine absolute Garantie für die Sicherheit von Staatsangehörigen dieses Landes bieten. Bei der dieser Bestimmung zugrunde liegenden Prüfung können naturgemäß nur die allgemeinen staatsbürgerlichen, rechtlichen und politischen Gegebenheiten in dem betreffenden Land sowie der Umstand berücksichtigt werden, ob Personen, die in diesem Land der Verfolgung, Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung für schuldig befunden werden, auch tatsächlich bestraft werden. Daher ist es wichtig, dass ein als sicher eingestuftes Land für einen Antragsteller nicht länger als solches gelten kann, wenn dieser aufzeigt, dass es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass das betreffende Land für ihn in seiner besonderen Situation nicht sicher ist.
(43)
Die Mitgliedstaaten sollten alle Anträge in der Sache prüfen, d. h. beurteilen, ob der betreffende Antragsteller gemäß der Richtlinie 2011/95/EU als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anerkannt werden kann, sofern die vorliegende Richtlinie nichts anderes vorsieht, insbesondere dann, wenn vernünftigerweise davon ausgegangen werden kann, dass ein anderer Staat den Antrag prüfen oder für einen ausreichenden Schutz sorgen würde. Die Mitgliedstaaten sollten insbesondere nicht verpflichtet sein, einen Antrag auf internationalen Schutz in der Sache zu prüfen, wenn der erste Asylstaat dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat oder ihm anderweitig ausreichenden Schutz gewährt und die Rückübernahme des Antragstellers in diesen Staat gewährleistet ist.
(44)
Die Mitgliedstaaten sollten nicht verpflichtet sein, einen Antrag auf internationalen Schutz in der Sache zu prüfen, wenn vom Antragsteller aufgrund einer ausreichenden Verbindung zu einem Drittstaat im Sinne einzelstaatlicher Rechtsvorschriften erwartet werden kann, dass er in diesem Drittstaat Schutz suchen wird, und wenn Grund zu der Annahme besteht, dass die Übernahme oder Rückübernahme des Antragstellers in diesen Staat gewährleistet ist. Die Mitgliedstaaten sollten nur dann nach diesem Grundsatz verfahren, wenn dieser Antragsteller in dem betreffenden Drittstaat tatsächlich sicher wäre. Zur Vermeidung der Sekundärmigration der Antragsteller sollten gemeinsame Grundsätze festgelegt werden, nach denen Mitgliedstaaten Drittstaaten als sicher betrachten oder als sicher bestimmen.
(45)
Darüber hinaus sollte den Mitgliedstaaten im Hinblick auf bestimmte europäische Drittstaaten mit besonders hohen Standards im Bereich der Menschenrechte und des Flüchtlingsschutzes gestattet werden, Anträge auf internationalen Schutz der aus diesen europäischen Drittstaaten in ihr Hoheitsgebiet eingereisten Antragsteller nicht oder nicht vollständig zu prüfen.
(46)
Wenn die Mitgliedstaaten einzelfallbezogen Konzepte des sicheren Herkunftsstaats anwenden oder Staaten durch die Annahme entsprechender Listen als sicher einstufen, sollten sie unter anderem die Leitlinien und Handbücher sowie die Informationen über Herkunftsländer und die Maßnahmen, einschließlich der Methode für Berichte mit Informationen über Herkunftsländer des EASO, gemäß der Verordnung (EU) Nr. 439/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Mai 2010 zur Einrichtung eines Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen(6), sowie einschlägige UNHCR-Leitlinien berücksichtigen
(47)
Um den regelmäßigen Austausch von Informationen darüber, wie die Konzepte „sicherer Herkunftsstaat” , „sicherer Drittstaat” und „sicherer europäischer Drittstaat” in den Mitgliedstaaten angewandt werden, und eine regelmäßige Überprüfung durch die Kommission der Nutzung dieser Konzepte durch die Mitgliedstaaten zu erleichtern und um eine mögliche weitere Harmonisierung in der Zukunft vorzubereiten, sollten die Mitgliedstaaten der Kommission mitteilen oder ihr regelmäßig berichten, auf welche Drittstaaten diese Konzepte angewandt werden. Die Kommission sollte das Europäische Parlament regelmäßig über die Ergebnisse ihrer Überprüfung unterrichten.
(48)
Damit die richtige Anwendung der Konzepte des sicheren Staats ausgehend von aktuellen Informationen sichergestellt wird, sollten die Mitgliedstaaten regelmäßig die Lage in diesen Staaten auf der Grundlage einer Reihe von Informationsquellen überprüfen, einschließlich vor allem der Informationen anderer Mitgliedstaaten, des EASO, des UNHCR, des Europarats und anderer einschlägiger internationaler Organisationen. Erhalten die Mitgliedstaaten Kenntnis von einer wesentlichen Änderung der Menschenrechtslage in einem von ihnen als sicher eingestuften Staat, so sollten sie sicherstellen, dass die Lage so schnell wie möglich überprüft wird, und sollten erforderlichenfalls die Einstufung des Staats als sicherer Staat überprüfen.
(49)
Bezüglich der Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus sollten die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass Personen mit internationalem Schutzstatus ordnungsgemäß über eine eventuelle Überprüfung ihres Status informiert werden und die Möglichkeit haben, den Behörden ihren Standpunkt darzulegen, bevor diese eine begründete Entscheidung über die Aberkennung ihres Status treffen können.
(50)
Einem Grundprinzip des Unionsrechts zufolge muss gegen die Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz, gegen die Ablehnung der Wiederaufnahme der Prüfung eines Antrags nach ihrer Einstellung und gegen die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus ein wirksamer Rechtsbehelf vor einem Gericht gegeben sein.
(51)
Nach Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) berührt diese Richtlinie nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit.
(52)
Die Verarbeitung personenbezogener Daten in den Mitgliedstaaten gemäß dieser Richtlinie erfolgt nach Maßgabe der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr(7).
(53)
Diese Richtlinie betrifft nicht die Verfahren zwischen Mitgliedstaaten im Rahmen der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat förmlich gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist(8).
(54)
Diese Richtlinie sollte für Antragsteller, für die die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 gilt, zusätzlich zu den Bestimmungen jener Verordnung und unbeschadet ihrer Bestimmungen gelten.
(55)
Die Anwendung dieser Richtlinie sollte in regelmäßigen Abständen bewertet werden.
(56)
Da das Ziel dieser Richtlinie, nämlich die Einführung gemeinsamer Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung internationalen Schutzes, auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden kann, sondern wegen des Umfangs und der Wirkungen dieser Richtlinie besser auf Unionsebene zu erreichen ist, kann die Union im Einklang mit dem in Artikel 5 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) niedergelegten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geht diese Richtlinie nicht über das für die Erreichung dieses Ziels erforderliche Maß hinaus.
(57)
Gemäß der Gemeinsamen Politischen Erklärung der Mitgliedstaaten und der Kommission vom 28. September 2011 zu erläuternden Dokumenten(9) haben sich die Mitgliedstaaten verpflichtet, in begründeten Fällen zusätzlich zur Mitteilung ihrer Umsetzungsmaßnahmen ein oder mehrere Dokumente zu übermitteln, in denen der Zusammenhang zwischen den Bestandteilen einer Richtlinie und den entsprechenden Teilen innerstaatlicher Umsetzungsinstrumente erläutert wird. In Bezug auf diese Richtlinie hält der Gesetzgeber die Übermittlung derartiger Dokumente für gerechtfertigt.
(58)
Nach den Artikeln 1, 2 und 4a Absatz 1 des dem EUV und dem AEUV beigefügten Protokolls Nr. 21 über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und unbeschadet des Artikels 4 dieses Protokolls beteiligen sich diese Mitgliedstaaten nicht an der Annahme dieser Richtlinie und sind weder durch diese Richtlinie gebunden noch zu ihrer Anwendung verpflichtet.
(59)
Gemäß den Artikeln 1 und 2 des dem EUV und dem AEUV beigefügten Protokolls Nr. 22 über die Position Dänemarks beteiligt sich Dänemark nicht an der Annahme dieser Richtlinie und ist weder durch diese Richtlinie gebunden noch zu ihrer Anwendung verpflichtet.
(60)
Diese Richtlinie steht in Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der Charta anerkannt wurden. Diese Richtlinie zielt insbesondere darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde zu gewährleisten und die Anwendung der Artikel 1, 4, 18, 19, 21, 23, 24 und 47 der Charta zu fördern; sie muss entsprechend umgesetzt werden.
(61)
Die Verpflichtung zur Umsetzung dieser Richtlinie in nationales Recht sollte nur jene Bestimmungen betreffen, die im Vergleich zu der Richtlinie 2005/85/EG inhaltlich geändert wurden. Die Verpflichtung zur Umsetzung der inhaltlich unveränderten Bestimmungen ergibt sich aus jener Richtlinie.
(62)
Die vorliegende Richtlinie sollte die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten hinsichtlich der in Anhang II Teil B genannten Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2005/85/EG in nationales Recht unberührt lassen —

HABEN FOLGENDE RICHTLINIE ERLASSEN:

Fußnote(n):

(1)

ABl. C 24 vom 28.1.2012, S. 79.

(2)

Standpunkt des Europäischen Parlaments vom 6. April 2011 (ABl. C 296E vom 2.10.2012, S. 184) und Standpunkt des Rates in erster Lesung vom 6. Juni 2013 (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht). Standpunkt des Europäischen Parlaments vom 10. Juni 2013 (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(3)

ABl. L 326 vom 13.12.2005, S. 13.

(4)

ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9.

(5)

Siehe Seite 96 dieses Amtsblatts.

(6)

ABl. L 132 vom 29.5.2010, S. 11.

(7)

ABl. L 281 vom 23.11.1995, S. 31.

(8)

Siehe Seite 31 dieses Amtsblatts.

(9)

ABl. C 369 vom 17.12.2011, S. 14.

© Europäische Union 1998-2021

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