Präambel RL 2014/42/EU

DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION —

gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 82 Absatz 2 und Artikel 83 Absatz 1,

auf Vorschlag der Europäischen Kommission,

nach Zuleitung des Entwurfs des Gesetzgebungsakts an die nationalen Parlamente,

nach Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses(1),

nach Stellungnahme des Ausschusses der Regionen(2),

gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren(3),

in Erwägung nachstehender Gründe:

(1)
Das Streben nach Profit ist die wichtigste Triebfeder der grenzüberschreitenden organisierten Kriminalität, einschließlich mafiaähnlicher krimineller Organisationen. Folglich sollten die zuständigen Behörden die Mittel erhalten, um die aus Straftaten erlangten Erträge ermitteln, sicherstellen, verwalten und einziehen zu können. Die wirksame Verhütung und Bekämpfung der organisierten Kriminalität sollte jedoch durch die Neutralisierung der Erträge aus Straftaten erreicht werden und in bestimmten Fällen auf alle Vermögensgegenstände, die aus kriminellen Handlungen stammen, ausgeweitet werden.
(2)
Organisierte kriminelle Gruppen sind grenzübergreifend tätig und erwerben zunehmend Vermögen in anderen Mitgliedstaaten als denjenigen, in denen sie ansässig sind, und in Drittstaaten. Es besteht ein wachsender Bedarf an einer wirksamen internationalen Zusammenarbeit im Bereich der Vermögensabschöpfung und an Rechtshilfe.
(3)
Zu den wirksamsten Maßnahmen zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität zählen das Vorsehen schwerwiegender rechtlicher Folgen für die Begehung derartiger Straftaten sowie das effiziente Aufspüren und die Sicherstellung und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten.
(4)
Zwar liegen nur begrenzte statistische Daten vor, doch erscheinen die Beträge, die in der Union aus Erträgen aus Straftaten abgeschöpft werden, unzureichend im Vergleich zu der geschätzten Höhe dieser Erträge. Obwohl die Einziehungsverfahren in den Rechtsvorschriften der Union und den nationalen Rechtsvorschriften geregelt sind, wird diese Möglichkeit, wie aus Studien hervorgeht, nach wie vor zu wenig genutzt.
(5)
Mit der Annahme von Mindestvorschriften werden die Regelungen der Mitgliedstaaten zur Sicherstellung und Einziehung einander angenähert, womit das gegenseitige Vertrauen und die wirksame grenzübergreifende Zusammenarbeit gefördert werden.
(6)
Im Stockholmer Programm wie auch in den Schlussfolgerungen des Rates (Justiz und Inneres) vom Juni 2010 zur Einziehung und Vermögensabschöpfung wird einer wirksameren Ermittlung, Einziehung und Verwertung von durch Straftaten erlangtem Vermögen große Bedeutung beigemessen.
(7)
Den derzeitigen Rechtsrahmen der Union für die Sicherstellung, Beschlagnahme und Einziehung von Vermögensgegenständen bilden die Gemeinsame Maßnahme 98/699/JI(4), der Rahmenbeschluss 2001/500/JI des Rates(5), der Rahmenbeschluss 2003/577/JI des Rates(6), der Rahmenbeschluss 2005/212/JI des Rates(7) sowie der Rahmenbeschluss 2006/783/JI des Rates(8).
(8)
Wie aus den Berichten der Kommission über die Umsetzung der Rahmenbeschlüsse 2003/577/JI, 2005/212/JI und 2006/783/JI deutlich wird, sind die bestehenden Regelungen für die erweiterte Einziehung und die gegenseitige Anerkennung von Sicherstellungs- und Einziehungsentscheidungen nur eingeschränkt wirksam. Die Einziehung wird durch die Unterschiede im Recht der Mitgliedstaaten behindert.
(9)
Mit der vorliegenden Richtlinie sollen die Bestimmungen der Rahmenbeschlüsse 2001/500/JI und 2005/212/JI abgeändert und erweitert werden. Für die durch die vorliegende Richtlinie gebundenen Mitgliedstaaten sollten Teile dieser Rahmenbeschlüsse ersetzt werden.
(10)
Die Mitgliedstaaten dürfen Einziehungsverfahren im Zusammenhang mit Strafsachen vor jedem zuständigen Gericht einleiten.
(11)
Das derzeit geltende Konzept der „Erträge aus Straftaten” muss präzisiert werden, damit es nicht nur die unmittelbar aus einer kriminellen Tätigkeit erlangten Erträge umfasst, sondern auch alle mittelbaren Vorteile einschließlich der aus einer späteren Reinvestition oder Umwandlung direkter Erträge erlangten Vorteile. Somit können Erträge alle Vermögensgegenstände umfassen, einschließlich derer, die ganz oder teilweise in andere Vermögensgegenstände umgeformt oder umgewandelt wurden, oder derer, die mit aus rechtmäßigen Quellen erworbenen Vermögensgegenständen vermischt wurden, bis zur Höhe des Schätzwerts der Erträge, die vermischt wurden. Sie können auch Einkommen oder andere Gewinne umfassen, die aus Erträgen aus Straftaten oder aus Vermögensgegenständen, in die bzw. mit denen diese Erträge aus Straftaten umgeformt, umgewandelt oder vermischt wurden, stammen.
(12)
Diese Richtlinie enthält eine weit gefasste Definition der Vermögensgegenstände, die sichergestellt und eingezogen werden können. Diese Definition erstreckt sich auch auf rechtserhebliche Schriftstücke oder Urkunden, die das Recht auf solche Vermögensgegenstände oder Rechte daran belegen. Bei diesen Schriftstücken oder Urkunden könnte es sich beispielsweise um Finanzinstrumente oder Schriftstücke handeln, die Ansprüche von Gläubigern begründen können und sich in der Regel im Besitz der von den einschlägigen Verfahren betroffenen Person befinden. Diese Richtlinie lässt die bestehenden nationalen Verfahren zur Aufbewahrung rechtserheblicher Schriftstücke oder Urkunden, die das Recht auf Vermögensgegenstände oder Rechte daran belegen, unberührt, da sie von den zuständigen nationalen Behörden oder öffentlichen Stellen nach Maßgabe des nationalen Rechts angewandt werden.
(13)
Sicherstellung und Einziehung im Rahmen dieser Richtlinie sind autonome Begriffe, die die Mitgliedstaaten nicht daran hindern sollten, diese Richtlinie unter Verwendung von Instrumenten, die nach Maßgabe des nationalen Rechts als Sanktionen betrachtet würden, oder anderen Arten von Maßnahmen umzusetzen.
(14)
Für die Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten nach einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung sowie von Vermögensgegenständen, deren Wert diesen Tatwerkzeugen oder Erträgen entspricht, sollte für von dieser Richtlinie erfasste Straftaten der weite Straftatsbegriff gelten. Nach dem Rahmenbeschluss 2001/500/JI sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, im Anschluss an eine rechtskräftige Verurteilung die Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten sowie die Einziehung ihres Wertersatzes vorzusehen. Diese Pflichten sollten in Bezug auf Straftaten, die nicht von der vorliegenden Richtlinie erfasst sind, bestehen bleiben, und der Begriff „Ertrag” , wie er in der vorliegenden Richtlinie definiert wird, sollte in ähnlicher Weise in Bezug auf Straftaten ausgelegt werden, die von der vorliegenden Richtlinie nicht abgedeckt werden. Die Mitgliedstaaten können die Einziehung des Wertersatzes gegebenenfalls nach Maßgabe des nationalen Rechts als eine Maßnahme definieren, die der direkten Einziehung untergeordnet ist oder eine Alternative dazu darstellt.
(15)
Eine rechtskräftige Verurteilung aufgrund einer Straftat vorausgesetzt, sollte es möglich sein, Tatwerkzeuge und Erträge aus Straftaten oder Vermögensgegenstände, deren Wert diesen Tatwerkzeugen oder Erträgen entspricht, einzuziehen. Eine derartige rechtskräftige Verurteilung kann auch im Wege von Verfahren in Abwesenheit erfolgen. Ist eine Einziehung auf der Grundlage einer rechtskräftigen Verurteilung nicht möglich, so sollte es unter bestimmten Umständen dennoch möglich sein, Tatwerkzeuge und Erträge zumindest bei Erkrankung oder Flucht der verdächtigten oder beschuldigten Person einzuziehen. Sofern Mitgliedstaaten Verfahren in Abwesenheit für derartige Fälle der Erkrankung oder Flucht vorsehen, sollte dies ausreichend sein, dieser Verpflichtung nachzukommen. Bei Flucht der der verdächtigten oder beschuldigten Person sollten die Mitgliedstaaten alle angemessenen Maßnahmen ergreifen; sie können zudem verlangen, dass die betreffende Person zu dem Einziehungsverfahren geladen oder darüber unterrichtet wird.
(16)
Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Begriff Erkrankung die über einen längeren Zeitraum bestehende Unfähigkeit der verdächtigten oder beschuldigten Person, am Strafverfahren teilzunehmen, sodass das Verfahren nicht unter normalen Bedingungen fortgesetzt werden kann. Von verdächtigten oder beschuldigten Personen kann verlangt werden, die Krankheit nachzuweisen, beispielsweise durch ein ärztliches Attest, das vom Gericht jedoch auch außer Acht gelassen werden kann, wenn es für unzureichend erachtet wird. Das Recht einer Person, sich im Verfahren anwaltlich vertreten zu lassen, sollte nicht berührt werden.
(17)
Bei der Umsetzung dieser Richtlinie in Bezug auf die Einziehung von Vermögensgegenständen, deren Wert den Tatwerkzeugen entspricht, könnten die entsprechenden Bestimmungen Anwendung finden, wenn in Anbetracht der Besonderheiten des jeweiligen Falles eine derartige Maßnahme, insbesondere unter Berücksichtigung des Werts der betreffenden Tatwerkzeuge, angemessen ist. Die Mitgliedstaaten können ferner berücksichtigen, ob und inwieweit die verurteilte Person dafür verantwortlich ist, dass die Einziehung der Tatwerkzeuge nicht möglich ist.
(18)
Bei der Durchführung dieser Richtlinie können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass unter außergewöhnlichen Umständen die Einziehung nicht angeordnet wird, wenn sie nach nationalem Recht eine unbillige Härte für die betroffene Person darstellen würde, auf der Grundlage der Umstände des jeweiligen Einzelfalls, der maßgeblich sein sollte. Die Mitgliedstaaten sollten von dieser Möglichkeit nur sehr eingeschränkt Gebrauch machen und lediglich zulassen können, dass die Einziehung in den Fällen nicht angeordnet wird, in denen die betreffende Person in eine Lage versetzt würde, die ihr die weitere Existenz sehr erschweren würde.
(19)
Das Betätigungsfeld krimineller Gruppen ist sehr vielfältig. Zur wirkungsvollen Bekämpfung der organisierten Kriminalität sollten nach einer strafrechtlichen Verurteilung nicht nur Vermögensgegenstände eingezogen werden können, die mit einer bestimmten Straftat in Zusammenhang stehen, sondern auch darüber hinaus weitere Vermögensgegenstände, die das Gericht als Erträge aus anderen Straftaten ansieht. Dieses Vorgehen wird als erweiterte Einziehung bezeichnet. Der Rahmenbeschluss 2005/212/JI sieht drei Fallkonstellationen vor, in denen sich die Mitgliedstaaten für eine erweiterte Einziehung entscheiden können. Bei der Umsetzung dieses Rahmenbeschlusses haben die Mitgliedstaaten unterschiedliche Optionen gewählt, die zu uneinheitlichen Konzepten der erweiterten Einziehung im nationalen Recht geführt haben. Diese Unterschiede behindern die grenzübergreifende Zusammenarbeit im Zusammenhang mit Einziehungsfällen. Die Bestimmungen über die erweiterte Einziehung müssen daher durch die Vorgabe einer einheitlichen Mindestregelung weiter harmonisiert werden.
(20)
Bei der Feststellung, ob eine Straftat zu einem wirtschaftlichen Gewinn führen kann, können die Mitgliedstaaten die Vorgehensweise der Straftäter berücksichtigen, beispielsweise, ob eine Voraussetzung für das Vorliegen einer Straftat darin besteht, dass sie im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität oder in der Absicht, regelmäßige Gewinne aus Straftaten zu ziehen, begangen wurde. Dies sollte jedoch im Allgemeinen der Möglichkeit, auf eine erweiterte Einziehung zurückzugreifen, nicht entgegenstehen.
(21)
Die erweiterte Einziehung sollte möglich sein, wenn nach Überzeugung des Gerichts die betreffenden Vermögensgegenstände aus Straftaten stammen. Dies bedeutet nicht, dass feststehen muss, dass diese Vermögensgegenstände aus Straftaten stammen. Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass es beispielsweise ausreichen könnte, dass das Gericht nach einer Wahrscheinlichkeitsabwägung befindet oder vernünftigerweise davon ausgehen kann, dass es wesentlich wahrscheinlicher ist, dass die betreffenden Vermögensgegenstände aus Straftaten stammen, als dass sie durch andere Tätigkeiten erworben wurden. In diesem Zusammenhang hat das Gericht die konkreten Umstände des Falls zu berücksichtigen, einschließlich der Tatsachen und verfügbaren Beweismittel, aufgrund deren eine Entscheidung über eine erweiterte Einziehung ergehen könnte. Die Tatsache, dass die Vermögensgegenstände einer Person in einem Missverhältnis zu ihrem rechtmäßigen Einkommen stehen, könnte eine der Tatsachen sein, die das Gericht zu der Schlussfolgerung gelangen lassen, dass die Vermögensgegenstände aus Straftaten stammen. Die Mitgliedstaaten könnten ferner festlegen, dass ein bestimmter Zeitraum vorliegen muss, für den davon ausgegangen werden kann, dass die Vermögensgegenstände aus Straftaten stammen.
(22)
Mit dieser Richtlinie werden Mindestvorschriften festgelegt. Es bleibt den Mitgliedstaaten unbenommen, in ihrem nationalen Recht weitergehende Befugnisse vorzusehen, beispielsweise auch in Bezug auf ihre beweisrechtlichen Vorschriften.
(23)
Diese Richtlinie gilt für Straftaten, die in den Geltungsbereich der in dieser Richtlinie aufgeführten Rechtsakte fallen. Innerhalb des Geltungsbereichs dieser Rechtsakte sollten die Mitgliedstaaten von der erweiterten Einziehung mindestens bei bestimmten in dieser Richtlinie festgelegten Straftaten Gebrauch machen.
(24)
Es ist eine übliche und zunehmend verbreitete Praxis, dass die verdächtigte oder beschuldigte Person Vermögensgegenstände einem eingeweihten Dritten überträgt, um zu vermeiden, dass diese Gegenstände eingezogen werden. Der derzeitige rechtliche Rahmen der Union enthält keine verbindlichen Vorschriften für die Einziehung von Vermögensgegenständen, die Dritten übertragen worden sind. Es besteht daher die wachsende Notwendigkeit, die Einziehung von Vermögensgegenständen zu gestatten, die Dritten übertragen oder von ihnen erworben worden sind. Der Erwerb durch Dritte betrifft Situationen, in denen beispielsweise Vermögensgegenstände direkt oder indirekt — etwa über einen Mittelsmann — durch einen Dritten von einer verdächtigten oder beschuldigten Person erworben wurden, einschließlich der Fälle, in denen die Straftat im Namen oder zugunsten dieses Dritten begangen wurde, und wenn die beschuldigte Person keine Vermögensgegenstände besitzt, die eingezogen werden können. Diese Einziehung sollte zumindest in den Fällen möglich sein, in denen dem Dritten aufgrund konkreter Tatsachen oder Umstände — darunter auch die unentgeltliche Übertragung oder die Übertragung für einen wesentlich unter dem Marktwert liegenden Geldbetrag — bekannt war oder hätte bekannt sein müssen, dass der Zweck der Übertragung oder des Erwerbs in der Vermeidung der Einziehung bestand. Die Vorschriften über die Dritteinziehung sollten für natürliche und juristische Personen gelten. Die Rechte gutgläubiger Dritter sollten keinesfalls beeinträchtigt werden.
(25)
Die Mitgliedstaaten können die Dritteinziehung gegebenenfalls nach Maßgabe des nationalen Rechts als eine Maßnahme definieren, die der direkten Einziehung untergeordnet ist oder eine Alternative dazu darstellt.
(26)
Die Einziehung führt zur endgültigen Entziehung von Vermögensgegenständen. Die Sicherung des Vermögensgegenstands kann jedoch eine Voraussetzung für die Einziehung und für die Vollstreckung einer Einziehungsentscheidung unerlässlich sein. Vermögensgegenstände werden durch Sicherstellung gesichert. Um den Verlust von Vermögensgegenständen zu verhindern, bevor deren Sicherstellung angeordnet werden kann, sollten die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten befugt sein, Sofortmaßnahmen zur Sicherung solcher Vermögensgegenstände zu ergreifen.
(27)
Da Vermögensgegenstände häufig für die Zwecke der Einziehung gesichert werden, sind Sicherstellung und Einziehung eng miteinander verbunden. In einigen Rechtssystemen gilt die Sicherstellung zum Zwecke der Einziehung als eine gesonderte einstweilige Verfahrensmaßnahme, auf die eine Einziehungsentscheidung folgen kann. Unbeschadet der verschiedenen nationalen Rechtssysteme und des Rahmenbeschlusses 2003/577/JI sollten mit der vorliegenden Richtlinie einige Aspekte der nationalen Systeme der Sicherstellung zum Zwecke der Einziehung angeglichen werden.
(28)
Sicherstellungsmaßnahmen lassen die Möglichkeit unberührt, einen bestimmten Vermögensgegenstand für die Dauer des Verfahrens als Beweismittel zu betrachten, vorausgesetzt, dass er letztendlich zur tatsächlichen Vollstreckung der Einziehungsentscheidung zur Verfügung gestellt wird.
(29)
Im Rahmen von Strafverfahren kann die Sicherstellung von Vermögensgegenständen auch im Hinblick auf ihre etwaige spätere Rückgabe bzw. zu dem Zweck erfolgen, den Ersatz der durch eine Straftat verursachten Schaden zu gewährleisten.
(30)
Vermögensgegenstände werden häufig, solange das Strafverfahren dauert, von der verdächtigten oder beschuldigten Person verborgen gehalten. Einziehungsentscheidungen können infolgedessen nicht vollstreckt werden, und die Adressaten dieser Entscheidungen kommen wieder in den Genuss ihres Vermögens, sobald sie ihre Strafe verbüßt haben. Es ist daher notwendig, den genauen Umfang der Vermögensgegenstände bestimmen zu können, die auch nach einer rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung einzuziehen sind, um die vollständige Vollstreckung der Einziehungsentscheidung in den Fällen zu ermöglichen, in denen anfangs kein oder kein hinreichendes Vermögen ermittelt und die Einziehungsentscheidung nicht vollstreckt werden konnte.
(31)
Angesichts der von einer Sicherstellungsentscheidung bewirkten Einschränkung des Eigentumsrechts sollten solche einstweiligen Maßnahmen nicht länger aufrechterhalten werden dürfen als nötig ist, um die Verfügbarkeit des Vermögensgegenstands im Hinblick auf seine etwaige spätere Einziehung zu gewährleisten. Um zu gewährleisten, dass der Zweck der Sicherstellung, nämlich den Verlust des Vermögensgegenstands zu verhindern, nach wie vor gegeben ist, kann eine Überprüfung durch ein Gericht erforderlich sein.
(32)
Vermögensgegenstände, die im Hinblick auf ihre etwaige spätere Einziehung sichergestellt worden sind, sollten in geeigneter Weise verwaltet werden, damit sie ihren wirtschaftlichen Wert nicht verlieren. Die Mitgliedstaaten sollten die notwendigen Maßnahmen einschließlich der Möglichkeit eines Verkaufs oder einer Übertragung der Vermögensgegenstände treffen, um solche Verluste so gering wie möglich zu halten. Sie sollten geeignete Maßnahmen wie etwa die Einrichtung zentraler nationaler Vermögensverwaltungsstellen, von Fachdienststellen oder vergleichbarer Mechanismen treffen, um das vor der Einziehung sichergestellte Vermögen bis zur gerichtlichen Entscheidung effektiv zu verwalten und seinen Wert zu erhalten.
(33)
Diese Richtlinie wirkt sich nicht nur erheblich auf die Rechte verdächtiger oder beschuldigter Personen aus, sondern auch auf die Rechte strafrechtlich nicht verfolgter Dritter. Es müssen deshalb besondere Garantien und gerichtliche Rechtsbehelfe vorgesehen werden, damit ihre Grundrechte bei der Umsetzung dieser Richtlinie gewahrt bleiben. Dies schließt ein Recht auf Anhörung für Dritte ein, die geltend machen, dass sie die Eigentümer der betreffenden Vermögensgegenstände sind oder dass sie andere Eigentumsrechte ( „dingliche Rechte” , „ius in re” ), wie etwa das Nießbrauchsrecht, haben. Die Sicherstellungsentscheidung sollte der betroffenen Person baldmöglichst nach ihrer Vollstreckung mitgeteilt werden. Die zuständigen Behörden können die Unterrichtung der betroffenen Person über die Entscheidung jedoch aus Ermittlungsgründen aufschieben.
(34)
Mit der Unterrichtung über die Sicherstellungsentscheidung wird unter anderem bezweckt, die Anfechtung dieser Entscheidung zu ermöglichen. Daher sollten in der entsprechenden Mitteilung zumindest in Kurzform der Grund oder die Gründe für die betreffende Entscheidung angegeben werden, wobei gilt, dass diese Angabe sehr knapp gehalten sein kann.
(35)
Die Mitgliedstaaten sollten in Erwägung ziehen, Maßnahmen zu ergreifen, die es ermöglichen, dass eingezogene Vermögensgegenstände für Zwecke des öffentlichen Interesses oder soziale Zwecke verwendet werden. Im Rahmen dieser Maßnahmen könnten die Vermögensgegenstände unter anderem für Projekte im Bereich der Strafverfolgung und Verbrechensverhütung sowie für andere Projekte von öffentlichem Interesse und gesellschaftlichem Nutzen bestimmt werden. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Maßnahmen in Erwägung zu ziehen, enthält eine Handlungsverpflichtung, beispielsweise die Durchführung einer rechtlichen Prüfung oder die Erörterung der Vor- und Nachteile der Einführung von Maßnahmen. Bei der Verwaltung sichergestellter Vermögensgegenstände und bei der Durchführung von Maßnahmen in Bezug auf die Verwendung eingezogener Vermögensgegenstände sollten die Mitgliedstaaten mit geeigneten Maßnahmen einer kriminellen oder illegalen Infiltrierung vorbeugen.
(36)
Es gibt nur wenige verlässliche Daten über die Sicherstellung und Einziehung von aus Straftaten erlangten Erträgen. Um eine Bewertung dieser Richtlinie zu ermöglichen, muss ein Mindestmaß an geeigneten, vergleichbaren statistischen Daten zur Sicherstellung und Einziehung von Vermögensgegenständen, Aufspürung von Vermögensgegenständen sowie zur Tätigkeit des Justiz- und Finanzfiskus erhoben werden.
(37)
Die Mitgliedstaaten sollten sich bemühen, Daten für bestimmte Statistiken auf zentraler Ebene zu erheben, um sie der Kommission zu übermitteln. Dies bedeutet, dass sie zumutbare Anstrengungen unternehmen sollten, um die betreffenden Daten zu erheben. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, das Ziel der Datenerhebung zu verwirklichen, wenn dies für den betreffenden Mitgliedstaat mit unverhältnismäßigem Verwaltungsaufwand oder hohen Kosten verbunden ist.
(38)
Diese Richtlinie wahrt die Grundrechte und achtet die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden „Charta” ) und in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden „EMRK” ) in der Auslegung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verankerten Grundsätze. Diese Richtlinie sollte im Einklang mit diesen Rechten und Grundsätzen umgesetzt werden. Sie sollte die nationalen Bestimmungen über die Prozesskostenhilfe unberührt lassen und begründet keine Verpflichtungen für die Prozesskostenhilfesysteme der Mitgliedstaaten, die gemäß der Charta und der EMRK Anwendung finden sollten.
(39)
Es sollten spezielle Garantien eingeführt werden, um sicherzustellen, dass Einziehungsentscheidungen generell begründet werden, es sei denn, die betroffene Person hat in einem vereinfachten Strafverfahren bei einem weniger schweren Fall darauf verzichtet.
(40)
Diese Richtlinie sollte unter Berücksichtigung der Bestimmungen der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates(9), der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates(10) und der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates(11), die Verfahrensrechte im Strafverfahren betreffen, umgesetzt werden.
(41)
Da das Ziel dieser Richtlinie, nämlich die Einziehung von Vermögensgegenständen in Strafsachen zu erleichtern, von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden kann, sondern vielmehr auf Unionsebene besser zu verwirklichen ist, kann die Union im Einklang mit dem in Artikel 5 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) verankerten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geht diese Richtlinie nicht über das für die Verwirklichung dieses Ziels erforderliche Maß hinaus.
(42)
Gemäß Artikel 3 und Artikel 4a Absatz 1 des dem EUV und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) beigefügten Protokolls Nr. 21 über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts hat Irland mitgeteilt, dass es sich an der Annahme und der Anwendung der vorliegenden Richtlinie beteiligen möchte. Gemäß diesem Protokoll ist Irland durch die vorliegende Richtlinie nur hinsichtlich der Straftaten gebunden, die durch die Rechtsinstrumente erfasst werden, an die es gebunden ist.
(43)
Gemäß den Artikeln 1 und 2 und Artikel 4a Absatz 1 des dem EUV und dem AEUV beigefügten Protokolls Nr. 21 über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und unbeschadet des Artikels 4 dieses Protokolls beteiligt sich das Vereinigte Königreich nicht an der Annahme der vorliegenden Richtlinie und ist weder durch sie gebunden noch zu ihrer Anwendung verpflichtet. Vorbehaltlich der Teilnahme im Einklang mit Artikel 4 dieses Protokolls ist das Vereinigte Königreich durch die vorliegende Richtlinie nur hinsichtlich der Straftaten gebunden, die durch die Rechtsinstrumente erfasst werden, an die es gebunden ist.
(44)
Gemäß den Artikeln 1 und 2 des dem EUV und dem AEUV beigefügten Protokolls Nr. 22 beteiligt sich Dänemark nicht an der Annahme der vorliegenden Richtlinie und ist weder durch sie gebunden noch zu ihrer Anwendung verpflichtet —

HABEN FOLGENDE RICHTLINIE ERLASSEN:

Fußnote(n):

(1)

ABl. C 299 vom 4.10.2012, S. 128.

(2)

ABl. C 391 vom 18.12.2012, S. 134.

(3)

Standpunkt des Europäischen Parlaments vom 25. Februar 2014 (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht) und Beschluss des Rates vom 14. März 2014.

(4)

98/699/JI: Gemeinsame Maßnahme vom 3. Dezember 1998 — vom Rat aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union angenommen — betreffend Geldwäsche, die Ermittlung, das Einfrieren, die Beschlagnahme und die Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten (ABl. L 333vom 9.12.1998, S. 1).

(5)

Rahmenbeschluss 2001/500/JI des Rates vom 26. Juni 2001 über Geldwäsche sowie Ermittlung, Einfrieren, Beschlagnahme und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten (ABl. L 182 vom 5.7.2001, S. 1).

(6)

Rahmenbeschluss 2003/577/JI des Rates vom 22. Juli 2003 über die Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln in der Europäischen Union (ABl. L 196 vom 2.8.2003, S. 45).

(7)

Rahmenbeschluss 2005/212/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Einziehung von Erträgen, Tatwerkzeugen und Vermögensgegenständen aus Straftaten (ABl. L 68 vom 15.3.2005, S. 49).

(8)

Rahmenbeschluss 2006/783/JI des Rates vom 6. Oktober 2006 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Einziehungsentscheidungen (ABl. L 328 vom 24.11.2006, S. 59).

(9)

Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (ABl. L 280 vom 26.10.2010, S. 1).

(10)

Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. L 142 vom 1.6.2012, S. 1).

(11)

Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs (ABl. L 294 vom 6.11.2013, S. 1).

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