Präambel RL 2016/343/EU

DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION —

gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 82 Absatz 2 Buchstabe b,

auf Vorschlag der Europäischen Kommission,

nach Zuleitung des Entwurfs des Gesetzgebungsakts an die nationalen Parlamente,

nach Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses(1),

nach Anhörung des Ausschusses der Regionen,

gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren(2),

in Erwägung nachstehender Gründe:

(1)
Die Unschuldsvermutung und das Recht auf ein faires Verfahren sind in den Artikeln 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden „Charta” ), in Artikel 6 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), in Artikel 14 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) und in Artikel 11 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung verankert.
(2)
Die Union hat sich die Erhaltung und Weiterentwicklung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zum Ziel gesetzt. Aus den Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates vom 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere, insbesondere aus deren Nummer 33, geht hervor, dass eine verbesserte gegenseitige Anerkennung von Urteilen und anderen gerichtlichen Entscheidungen und die notwendige Annäherung der Rechtsvorschriften die Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden verbessern und den Schutz der Rechte des Einzelnen durch die Justiz erleichtern würden. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung sollte daher zum Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen innerhalb der Union werden.
(3)
Gemäß dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) beruht die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und anderer gerichtlicher Entscheidungen.
(4)
Die Umsetzung dieses Grundsatzes beruht auf dem Grundgedanken, dass die Mitgliedstaaten gegenseitiges Vertrauen in ihre jeweilige Strafrechtspflege haben. Das Ausmaß des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung hängt von einer Reihe von Parametern ab; dazu gehören Mechanismen für den Schutz der Rechte von Verdächtigen und von beschuldigten Personen sowie gemeinsame Mindeststandards, die erforderlich sind, um die Anwendung dieses Grundsatzes zu erleichtern.
(5)
Zwar sind die Mitgliedstaaten Vertragsparteien der EMRK und des IPbpR, doch hat die Erfahrung gezeigt, dass dies allein nicht immer ein hinreichendes Maß an Vertrauen in die Strafrechtspflege anderer Mitgliedstaaten schafft.
(6)
Am 30. November 2009 hat der Rat eine Entschließung über einen Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren(3) (im Folgenden „Fahrplan” ) angenommen. In dem Fahrplan, der eine schrittweise Herangehensweise vorsieht, wird dazu aufgerufen, Maßnahmen zu ergreifen, die das Recht auf Übersetzungen und Dolmetschleistungen (Maßnahme A), das Recht auf Belehrung über die Rechte und Unterrichtung über die Beschuldigung (Maßnahme B), das Recht auf Rechtsbeistand und Prozesskostenhilfe (Maßnahme C), das Recht auf Kommunikation mit Angehörigen, Arbeitgebern und Konsularbehörden (Maßnahme D) und besondere Garantien für schutzbedürftige Verdächtige oder Beschuldigte (Maßnahme E) betreffen.
(7)
Am 11. Dezember 2009 hat der Europäische Rat den Fahrplan begrüßt und ihn zum Bestandteil des Stockholmer Programms — Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger(4) gemacht (Nummer 2.4). Der Europäische Rat betonte, dass der Fahrplan nicht abschließend sein soll, und ersuchte die Kommission, weitere Elemente von Mindestverfahrensrechten für Verdächtige und beschuldigte Personen zu prüfen und zu bewerten, ob andere Themen, beispielsweise die Unschuldsvermutung, angegangen werden müssen, um eine bessere Zusammenarbeit auf diesem Gebiet zu fördern.
(8)
Bislang wurden drei Maßnahmen betreffend Verfahrensrechte in Strafverfahren gemäß dem Fahrplan angenommen, und zwar die Richtlinien 2010/64/EU(5), 2012/13/EU(6) und 2013/48/EU(7) des Europäischen Parlaments und des Rates.
(9)
Mit dieser Richtlinie soll das Recht auf ein faires Verfahren in Strafverfahren gestärkt werden, indem gemeinsame Mindestvorschriften für bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung und das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung festgelegt werden.
(10)
Durch die Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften zum Schutz der Verfahrensrechte Verdächtiger und beschuldigter Personen zielt diese Richtlinie darauf ab, das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege zu stärken und auf diese Weise die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen zu erleichtern. Auch können durch die Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften Hindernisse für die Freizügigkeit der Unionsbürger im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten beseitigt werden.
(11)
Diese Richtlinie sollte nur für Strafverfahren im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden „Gerichtshof” ) gelten, unbeschadet der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Diese Richtlinie sollte nicht für Verfahren nach dem Zivil- oder Verwaltungsrecht, einschließlich wenn Letztere zur Verhängung von Sanktionen führen können, wie etwa Verfahren in den Bereichen Wettbewerb, Handel, Finanzdienstleistungen, Straßenverkehr, Steuern oder Steuerzuschläge, sowie für Ermittlungen von Verwaltungsbehörden im Zusammenhang mit solchen Verfahren gelten.
(12)
Diese Richtlinie sollte für natürliche Personen gelten, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in einem Strafverfahren sind. Sie sollte ab dem Zeitpunkt gelten, in dem eine Person verdächtigt oder beschuldigt wird, eine Straftat oder eine mutmaßliche Straftat begangen zu haben, und somit schon bevor diese Person von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaates durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Weise darüber unterrichtet wird, dass sie Verdächtiger oder beschuldigte Person ist. Diese Richtlinie sollte in allen Abschnitten des Strafverfahrens bis zur Entscheidung zur abschließenden Klärung, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, und bis diese Entscheidung Rechtskraft erlangt hat, Anwendung finden. Rechtliche Maßnahmen und Rechtsbehelfe, die erst dann zur Verfügung stehen, nachdem diese Entscheidung rechtskräftig geworden ist, einschließlich Beschwerden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, sollten nicht in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen.
(13)
In dieser Richtlinie wird anerkannt, dass das Bedürfnis natürlicher und juristischer Personen nach Schutz durch bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung und das Niveau des ihnen dadurch gewährten Schutzes unterschiedlich sind. Zum Schutz natürlicher Personen gibt es eine ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat jedoch festgestellt, dass die aus der Unschuldsvermutung erwachsenden Rechte nicht in gleicher Weise für juristische Personen wie für natürliche Personen gelten.
(14)
Beim derzeitigen Stand der Entwicklung des nationalen Rechts und der Rechtsprechung auf nationaler und auf Unionsebene wäre es verfrüht, auf Unionsebene Rechtsvorschriften über die Unschuldsvermutung in Bezug auf juristische Personen zu erlassen. Deshalb sollte diese Richtlinie nicht für juristische Personen gelten. Die Anwendung der Unschuldsvermutung auf juristische Personen, wie sie insbesondere in der EMRK niedergelegt ist und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und vom Gerichtshof ausgelegt wurde, sollte hiervon unberührt bleiben.
(15)
Die Unschuldsvermutung in Bezug auf juristische Personen dürfte durch die bestehenden rechtlichen Garantien und die bestehende Rechtsprechung gewährleistet sein; die Entwicklung der Rechtsprechung wird ausschlaggebend dafür sein, ob die Union tätig werden muss.
(16)
Ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung läge vor, wenn der Verdächtige oder die beschuldigte Person in einer öffentlichen Erklärung einer Behörde oder in einer gerichtlichen Entscheidung, bei der es sich nicht um eine Entscheidung über die Schuld handelt, als schuldig dargestellt wird, solange die Schuld dieser Person nicht rechtsförmlich nachgewiesen wurde. Solche Erklärungen und gerichtlichen Entscheidungen sollten nicht den Eindruck vermitteln, dass die betreffende Person schuldig ist. Davon sollten Strafverfolgungsmaßnahmen unberührt bleiben, die darauf abzielen, den Verdächtigen oder die beschuldigte Person zu überführen, wie etwa die Anklage, ebenso wie gerichtliche Entscheidungen, mit denen die Aussetzung einer Strafe zur Bewährung widerrufen wird, soweit dabei die Rechte der Verteidigung gewahrt werden. Ebenso unberührt bleiben sollten vorläufige Entscheidungen verfahrensrechtlicher Art, die von einer gerichtlichen oder sonstigen zuständigen Stelle getroffen werden und auf Verdachtsmomenten oder belastendem Beweismaterial beruhen, wie etwa Entscheidungen über Untersuchungshaft, soweit der Verdächtige oder die beschuldigte Personen darin nicht als schuldig bezeichnet wird. Bevor eine vorläufige Entscheidung verfahrensrechtlicher Art getroffen wird, müsste die zuständige Stelle unter Umständen zunächst prüfen, ob das gegen den Verdächtigen oder die beschuldigte Person vorliegende belastende Beweismaterial ausreicht, um die betreffende Entscheidung zu rechtfertigen; in der Entscheidung könnte auf dieses Beweismaterial Bezug genommen werden.
(17)
Unter „öffentliche Erklärung einer Behörde” sollte jede Erklärung verstanden werden, in der auf eine Straftat Bezug genommen wird und die entweder von einer Behörde stammt, die an dem die fragliche Straftat betreffenden Strafverfahren beteiligt ist, wie Justizbehörden, Polizei und andere Strafverfolgungsbehörden, oder von einer anderen Behörde, wie Minister und andere Amtsträger, mit der Maßgabe, dass die nationalen Rechtsvorschriften über die Immunität hiervon unberührt bleiben.
(18)
Das Verbot, Verdächtige oder beschuldigte Personen als schuldig darzustellen, sollte öffentliche Stellen nicht daran hindern, Informationen über Strafverfahren öffentlich zu verbreiten, wenn dies im Zusammenhang mit strafrechtlichen Ermittlungen, wie etwa bei einer Freigabe von Videomaterial mit der Bitte um Hinweise aus der Bevölkerung zur Identifizierung des mutmaßlichen Straftäters, oder im öffentlichen Interesse, wie etwa bei einer aus Sicherheitsgründen erfolgenden Unterrichtung der Anwohner eines von mutmaßlichen Umweltstraftaten betroffenen Gebiets oder bei der Bereitstellung objektiver Informationen seitens der Staatsanwaltschaft oder einer anderen zuständigen Stelle zum Stand eines Strafverfahrens, um Störungen der öffentlichen Ordnung zu verhindern, unbedingt erforderlich ist. Der Rückgriff auf solche Gründe sollte auf Situationen beschränkt bleiben, in denen dies unter Berücksichtigung sämtlicher Interessen zweckmäßig und verhältnismäßig erscheint. Auf jeden Fall sollte aufgrund der Art und des Zusammenhangs der Informationsverbreitung nicht der Eindruck entstehen, dass eine Person schuldig ist, bevor ihre Schuld rechtsförmlich nachgewiesen wurde.
(19)
Die Mitgliedstaaten sollten geeignete Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass Behörden, wenn sie Medien Informationen zur Verfügung stellen, Verdächtige oder beschuldigte Personen nicht als schuldig darstellen, solange ihre Schuld nicht rechtsförmlich nachgewiesen wurde. Daher sollten die Mitgliedstaaten die Behörden darauf hinweisen, wie wichtig es ist, die Unschuldsvermutung gebührend zu beachten, wenn Informationen an die Medien weitergegeben oder verbreitet werden. Dies sollte unbeschadet des nationalen Rechts gelten, das die Freiheit der Presse und sonstiger Medien schützt.
(20)
Die zuständigen Behörden sollten davon absehen, Verdächtige oder beschuldigte Personen vor Gericht oder in der Öffentlichkeit so darzustellen, als seien sie schuldig, indem diesen gegenüber physische Zwangsmaßnahmen, wie Handschellen, Glaskabinen, Käfige oder Fußfesseln, zum Einsatz kommen, es sei denn, der Einsatz solcher Maßnahmen ist im konkreten Fall entweder aus Gründen der Sicherheit erforderlich, zum Beispiel um Verdächtige oder beschuldigte Personen daran zu hindern, sich selbst oder andere zu verletzen oder fremdes Eigentum zu beschädigen, oder um sie daran zu hindern, zu entkommen oder mit Dritten, wie Zeugen oder Opfern, Kontakt aufzunehmen. Die Möglichkeit des Einsatzes von physischen Zwangsmaßnahmen bedeutet nicht, dass die zuständigen Behörden verpflichtet sind, eine förmliche Entscheidung über den Einsatz solcher Maßnahmen zu treffen.
(21)
Soweit möglich, sollten die zuständigen Behörden auch davon absehen, Verdächtige oder beschuldigte Personen vor Gericht oder in der Öffentlichkeit in Häftlingskleidung zu zeigen, um nicht den Eindruck zu erwecken, diese Personen seien schuldig.
(22)
Die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen liegt bei der Strafverfolgungsbehörde; Zweifel sollten dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person zugutekommen. Unbeschadet einer möglichen Befugnis des Gerichts zur Tatsachenfeststellung von Amts wegen, der Unabhängigkeit der Justiz bei der Prüfung der Schuld des Verdächtigen oder der beschuldigten Person und der Anwendung von Tatsachen- oder Rechtsvermutungen bezüglich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person, läge ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung vor, wenn die Beweislast von der Strafverfolgungsbehörde auf die Verteidigung verlagert würde. Derartige Vermutungen sollten unter Berücksichtigung der Bedeutung der betroffenen Belange und unter Wahrung der Verteidigungsrechte auf ein vertretbares Maß beschränkt werden, und die eingesetzten Mittel sollten in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten legitimen Ziel stehen. Diese Vermutungen sollten widerlegbar sein und sollten in jedem Fall nur angewendet werden, wenn die Verteidigungsrechte gewahrt sind.
(23)
In zahlreichen Mitgliedstaaten sind nicht nur die Staatsanwaltschaft, sondern auch Richter und zuständige Gerichte damit betraut, sowohl belastende als auch entlastende Beweise zu erheben. Mitgliedstaaten, die kein kontradiktorisches System haben, sollten ihr gegenwärtiges System beibehalten können, sofern dieses mit dieser Richtlinie und anderen einschlägigen Vorschriften des Unionsrechts und des internationalen Rechts im Einklang steht.
(24)
Das Aussageverweigerungsrecht ist ein wichtiger Aspekt der Unschuldsvermutung und sollte vor Selbstbelastung schützen.
(25)
Das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt der Unschuldsvermutung. Wenn Verdächtige und beschuldigte Personen aufgefordert werden, Erklärungen abzugeben oder Fragen zu beantworten, sollten sie nicht gezwungen werden, Beweise beizubringen, Unterlagen vorzulegen oder Aussagen zu machen, die zur Selbstbelastung führen könnten.
(26)
Das Aussageverweigerungsrecht und das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, sollten für Fragen gelten, die mit der Straftat, deren jemand verdächtigt oder beschuldigt wird, im Zusammenhang stehen, und nicht etwa für Fragen im Zusammenhang mit der Feststellung der Identität eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person.
(27)
Das Aussageverweigerungsrecht und das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, umfassen auch, dass die zuständigen Behörden keinen Zwang auf Verdächtige oder beschuldigte Personen ausüben sollten, um sie gegen ihren Willen zu einer Aussage zu bewegen. Bei der Prüfung, ob das Aussageverweigerungsrecht oder das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, verletzt wurde, sollte dem in der EMRK verankerten Recht auf ein faires Verfahren, wie es durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ausgelegt wird, Rechnung getragen werden.
(28)
Die Wahrnehmung des Aussageverweigerungsrechts oder des Rechts, sich nicht selbst belasten zu müssen, sollte weder gegen Verdächtige oder beschuldigte Personen verwendet noch an sich als Beweis dafür gewertet werden, dass die fragliche Person die betreffende Straftat begangen hat. Nationale Vorschriften über die Beweiswürdigung durch Gerichte oder Richter sollten davon unberührt bleiben, soweit die Verteidigungsrechte gewahrt werden.
(29)
Die Wahrnehmung des Rechts, sich nicht selbst belasten zu müssen, sollte die zuständige Behörde nicht daran hindern, Beweise zu erheben, die durch Anwendung gesetzlich vorgesehener Zwangsmittel gegenüber dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person rechtmäßig erlangt werden können und unabhängig vom Willen des Verdächtigen oder der beschuldigten Person existieren, zum Beispiel aufgrund einer gerichtlichen Anordnung erlangtes Material oder Material, zu dessen Abgabe auf Verlangen eine rechtliche Verpflichtung besteht, wie Atemluft-, Blut- und Urinproben und Körpergewebe für einen DNA-Test.
(30)
Das Aussageverweigerungsrecht und das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, sollten die Mitgliedstaaten nicht daran hindern, eine Regelung zu treffen, wonach bei geringfügigen Zuwiderhandlungen, wie geringfügigen Straßenverkehrsdelikten, das Verfahren oder bestimmte Verfahrensabschnitte in schriftlicher Form oder ohne Befragung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durch die zuständigen Behörden bezüglich der fraglichen Zuwiderhandlung durchgeführt werden können, sofern das Recht auf ein faires Verfahren gewahrt bleibt.
(31)
Die Mitgliedstaaten sollten in Erwägung ziehen, sicherzustellen, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, wenn sie gemäß Artikel 3 der Richtlinie 2012/13/EU über ihre Rechte belehrt werden, auch über das Recht belehrt werden, sich nicht selbst belasten zu müssen, wie es im Einklang mit der vorliegenden Richtlinie im nationalen Recht gilt.
(32)
Die Mitgliedstaaten sollten in Erwägung ziehen, sicherzustellen, dass wenn Verdächtigen oder beschuldigten Personen gemäß Artikel 4 der Richtlinie 2012/13/EU eine schriftliche Erklärung über ihre Rechte ausgehändigt wird, diese Erklärung auch Informationen über das Recht enthält, sich nicht selbst belasten zu müssen, wie es im Einklang mit der vorliegenden Richtlinie im nationalen Recht gilt.
(33)
Das Recht auf ein faires Verfahren ist eines der Grundprinzipien einer demokratischen Gesellschaft. Das Recht von Verdächtigen und beschuldigten Personen, in der Verhandlung anwesend zu sein, beruht auf diesem Recht und sollte in der gesamten Union sichergestellt werden.
(34)
Können Verdächtige oder beschuldigte Personen aus Gründen, die sie nicht zu vertreten haben, in der Verhandlung nicht anwesend sein, so sollten sie innerhalb der im nationalen Recht vorgesehenen Frist einen neuen Verhandlungstermin beantragen können.
(35)
Das Recht von Verdächtigen und beschuldigten Personen auf Anwesenheit in der Verhandlung gilt nicht absolut. Unter bestimmten Voraussetzungen sollten Verdächtige und beschuldigte Personen ausdrücklich oder stillschweigend, aber unmissverständlich erklären können, auf dieses Recht zu verzichten.
(36)
Unter bestimmten Umständen sollte es möglich sein, dass eine Entscheidung über die Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person selbst dann ergeht, wenn die betreffende Person bei der Verhandlung nicht anwesend ist. Dies kann der Fall sein, wenn der Verdächtige oder die beschuldigte Person, obgleich er bzw. sie rechtzeitig über die Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens unterrichtet wurde, der Verhandlung fernbleibt. Die Unterrichtung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person über die Verhandlung sollte dahin gehend verstanden werden, dass diese Person persönlich geladen wird oder auf anderem Wege amtlich über den Termin und Ort der Verhandlung in einer Weise unterrichtet wird, dass sie von der Verhandlung Kenntnis nehmen kann. Die Unterrichtung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person über die Folgen des Nichterscheinens sollte insbesondere dahin gehend verstanden werden, dass diese Person darüber unterrichtet wurde, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn sie der Verhandlung fernbleibt.
(37)
Es sollte auch möglich sein, in Abwesenheit eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person eine Verhandlung durchzuführen, die zu einer Entscheidung über Schuld oder Unschuld führen kann, wenn diese Person über die Verhandlung unterrichtet wurde und sie einem von ihr oder vom Staat bestellten Rechtsanwalt ein Mandat erteilt hat, sie bei der Verhandlung zu vertreten, und dieser den Verdächtigen oder die beschuldigte Person tatsächlich vor Gericht vertreten hat.
(38)
Bei der Prüfung der Frage, ob die Art der Übermittlung der Informationen eine ausreichende Gewähr dafür bietet, dass die Person Kenntnis von der Verhandlung hat, sollte gegebenenfalls auch in besonderem Maße darauf geachtet werden, welche Sorgfalt die Behörden bei der Unterrichtung der betroffenen Person an den Tag gelegt haben und welche Sorgfalt die betroffene Person im Zusammenhang mit der Entgegennahme der an sie gerichteten Informationen an den Tag gelegt hat.
(39)
Wenn ein Mitgliedstaat die Möglichkeit vorsieht, Verhandlungen in Abwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durchzuführen, aber die Voraussetzungen für eine Verurteilung in Abwesenheit eines bestimmten Verdächtigen oder einer bestimmten beschuldigten Person nicht erfüllt waren, weil der Verdächtige oder die beschuldigte Person trotz angemessener Bemühungen nicht aufgefunden werden konnte, etwa weil die Person geflohen oder entkommen ist, sollte es dennoch möglich sein, eine solche Entscheidung in Abwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person zu erlassen und diese Entscheidung zu vollstrecken. In einem solchen Fall sollten die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass der Verdächtige oder die beschuldigte Person, wenn er bzw. sie von der Entscheidung Kenntnis erlangt, insbesondere wenn er bzw. sie festgenommen wird, auch über die Möglichkeit informiert wird, die Entscheidung anzufechten, sowie über das Recht, eine neue Verhandlung zu verlangen oder einen sonstigen Rechtsbehelf einzulegen. Diese Informationen sollten in Schriftform bereitgestellt werden. Die Informationen können auch mündlich erteilt werden, soweit die Tatsache, dass die Informationen erteilt wurden, im Einklang mit dem im nationalen Recht vorgesehenen Verfahren für Aufzeichnungen festgehalten wurde.
(40)
Die zuständigen Behörden in den Mitgliedstaaten sollten zudem einen Verdächtigen oder eine beschuldigte Person vorübergehend von der Verhandlung ausschließen können, wenn dies dem Zweck dient, den ordnungsgemäßen Ablauf des Strafverfahrens sicherzustellen. Dies könnte beispielsweise der Fall sein, wenn ein Verdächtiger oder eine beschuldigte Person die Verhandlung stört und auf Anordnung des Richters des Saales verwiesen wird oder wenn sich herausstellt, dass die Anwesenheit eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person den ordnungsgemäßen Ablauf einer Zeugenvernehmung verhindert.
(41)
Das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung kann nur dann wahrgenommen werden, wenn eine oder mehrere Verhandlungen durchgeführt werden. Dies bedeutet, dass das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung nicht wahrgenommen werden kann, wenn die maßgeblichen nationalen Verfahrensvorschriften keine Verhandlung vorsehen. Diese nationalen Vorschriften sollten der Charta und der EMRK, wie sie durch den Gerichtshof und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ausgelegt werden, entsprechen, insbesondere in Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren. Dies ist beispielsweise der Fall bei vereinfachten Gerichtsverfahren, die vollständig oder teilweise schriftlich durchgeführt werden oder bei denen keine mündliche Verhandlung vorgesehen ist.
(42)
Die Mitgliedstaaten sollten dafür Sorge tragen, dass bei der Umsetzung dieser Richtlinie, insbesondere hinsichtlich des Rechts, in der Verhandlung anwesend zu sein, und des Rechts auf eine neue Verhandlung, die besonderen Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen berücksichtigt werden. Gemäß der Empfehlung der Kommission vom 27. November 2013 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für verdächtige oder beschuldigte schutzbedürftige Personen(8) sind unter schutzbedürftigen Verdächtigen und beschuldigten Personen alle Verdächtigen oder beschuldigten Personen zu verstehen, die aufgrund ihres Alters, ihrer geistigen oder körperlichen Verfassung oder aufgrund irgendeiner möglichen Behinderung nicht in der Lage sind, einem Strafverfahren zu folgen oder tatsächlich daran teilzunehmen.
(43)
Kinder sind schutzbedürftig und sollten besonders geschützt werden. Daher sollten im Hinblick auf einige in dieser Richtlinie vorgesehenen Rechte zusätzliche spezielle Verfahrensgarantien festgelegt werden.
(44)
Nach dem Grundsatz der praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, für den Fall der Verletzung eines durch Unionsrecht garantierten individuellen Rechts angemessene, wirksame Rechtsbehelfe vorzusehen. Ein wirksamer Rechtsbehelf bei einem Verstoß gegen ein in dieser Richtlinie festgelegtes Recht sollte die Verdächtigen oder beschuldigten Personen so weit wie möglich in die Lage versetzen, in der sie sich ohne den Verstoß befinden würden, damit das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf Verteidigung gewahrt werden.
(45)
Bei der Würdigung von Aussagen von Verdächtigen oder beschuldigten Personen oder von Beweismitteln, die unter Verstoß gegen das Aussageverweigerungsrecht oder das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, erlangt wurden, sollten Gerichte und Richter die Verteidigungsrechte und den Grundsatz des fairen Verfahrens beachten. In diesem Zusammenhang sollte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Rechnung getragen werden, der zufolge die Zulassung von Aussagen, die unter Verstoß gegen Artikel 3 EMRK durch Folter oder sonstige Misshandlung erlangt wurden, als Beweismittel zur Feststellung des Sachverhalts in einem Strafprozess dazu führt, dass das Verfahren insgesamt als unfair zu betrachten ist. Gemäß dem Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe dürfen Aussagen, die nachweislich durch Folter herbeigeführt wurden, nicht als Beweis in einem Verfahren verwendet werden, es sei denn gegen eine der Folter angeklagte Person als Beweis dafür, dass die Aussage gemacht wurde.
(46)
Damit die Wirksamkeit dieser Richtlinie überprüft und bewertet werden kann, sollten die Mitgliedstaaten der Kommission verfügbare Daten über die Umsetzung der in dieser Richtlinie festgelegten Rechte übermitteln. Zu diesen Daten könnten die von Strafverfolgungs- und Justizbehörden erfassten Aufzeichnungen über Rechtsbehelfe gehören, die bei Verletzung eines der unter diese Richtlinie fallenden Aspekte der Unschuldsvermutung oder des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung angewandt wurden.
(47)
Diese Richtlinie wahrt die in der Charta und der EMRK anerkannten Grundrechte und Grundsätze, darunter das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, das Recht auf Freiheit und Sicherheit sowie auf Achtung des Privat- und Familienlebens, das Recht auf Unversehrtheit, die Rechte des Kindes, das Recht auf Integration von Menschen mit Behinderung, das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren, die Unschuldsvermutung und die Verteidigungsrechte. Berücksichtigt werden sollte insbesondere Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union (EUV), dem zufolge die Union die Rechte, Freiheiten und Grundsätze anerkennt, die in der Charta niedergelegt sind, und dem zufolge die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind.
(48)
Da mit dieser Richtlinie Mindestvorschriften festgelegt werden, sollten die Mitgliedstaaten die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte ausweiten können, um ein höheres Schutzniveau zu gewährleisten. Das durch die Mitgliedstaaten gewährte Schutzniveau sollte nie unter den Standards der Charta oder der EMRK, wie sie vom Gerichtshof der Europäischen Union und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ausgelegt werden, liegen.
(49)
Da das Ziel dieser Richtlinie, nämlich die Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften in Bezug auf bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung und das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren, von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden kann, sondern vielmehr wegen des Umfangs der Maßnahme auf Unionsebene besser zu verwirklichen ist, kann die Union im Einklang mit dem in Artikel 5 EUV verankerten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geht diese Richtlinie nicht über das für die Verwirklichung dieser Ziele erforderliche Maß hinaus.
(50)
Nach den Artikeln 1 und 2 des dem EUV und dem AEUV beigefügten Protokolls Nr. 21 über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und unbeschadet des Artikels 4 dieses Protokolls beteiligen sich diese Mitgliedstaaten nicht an der Annahme dieser Richtlinie und sind weder durch diese Richtlinie gebunden noch zu ihrer Anwendung verpflichtet.
(51)
Nach den Artikeln 1 und 2 des dem EUV und dem AEUV beigefügten Protokolls Nr. 22 über die Position Dänemarks beteiligt sich Dänemark nicht an der Annahme dieser Richtlinie und ist weder durch diese Richtlinie gebunden noch zu ihrer Anwendung verpflichtet —

HABEN FOLGENDE RICHTLINIE ERLASSEN:

Fußnote(n):

(1)

ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 63.

(2)

Standpunkt des Europäischen Parlaments vom 20. Januar 2016 (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht) und Beschluss des Rates vom 12. Februar 2016.

(3)

ABl. C 295 vom 4.12.2009, S. 1.

(4)

ABl. C 115 vom 4.5.2010, S. 1.

(5)

Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (ABl. L 280 vom 26.10.2010, S. 1).

(6)

Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. L 142 vom 1.6.2012, S. 1).

(7)

Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs (ABl. L 294 vom 6.11.2013, S. 1).

(8)

ABl. C 378 vom 24.12.2013, S. 8.

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