Präambel RL 94/80/EG

DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION —

gestützt auf den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere auf Artikel 8b Absatz 1,

auf Vorschlag der Kommission,

nach Stellungnahme des Europäischen Parlaments(1),

nach Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses(2),

nach Stellungnahme des Ausschusses der Regionen(3),

in Erwägung nachstehender Gründe:

Der Vertrag über die Europäische Union stellt eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas dar. Die Union hat insbesondere die Aufgabe, die Beziehungen zwischen den Völkern der Mitgliedstaaten kohärent und solidarisch zu gestalten. Zu ihren Grundzielen gehört es, den Schutz der Rechte und Interessen der Staatsangehörigen ihrer Mitgliedstaaten durch die Einführung einer Unionsbürgerschaft zu stärken.

Zu diesem Zweck wird mit den Bestimmungen des Titels II des Vertrags über die Europäische Union eine Unionsbürgerschaft für alle Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten eingeführt und ihnen daraus eine Reihe von Rechten zuerkannt.

Das in Artikel 8b Absatz 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vorgesehene aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen im Wohnsitzmitgliedstaat stellt eine Anwendung des Grundsatzes der Gleichheit und Nichtdiskriminierung zwischen in- und ausländischen Unionsbürgern sowie eine Ergänzung des in Artikel 8a festgeschriebenen Rechts auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt dar.

Die Anwendung von Artikel 8b Absatz 1 des Vertrags setzt keine globale Harmonisierung der Wahlrechtsordnungen der Mitgliedstaaten voraus. Er zielt im wesentlichen darauf ab, die Bedingung der Staatsangehörigkeit aufzuheben, an die zur Zeit in den meisten Mitgliedstaaten die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts geknüpft ist. Mit Rücksicht auf den in Artikel 3b Absatz 3 des Vertrags festgeschriebenen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit darf zudem der Inhalt der einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften nicht über das für die Erreichung des Ziels von Artikel 8b Absatz 1 des Vertrags erforderliche Maß hinausgehen.

Artikel 8b Absatz 1 des Vertrags zielt darauf ab, daß alle Unionsbürger, unabhängig davon, ob sie Staatsangehörige des Wohnsitzmitgliedstaats sind oder nicht, dort ihr aktives und passives Wahlrecht bei den Kommunalwahlen unter den gleichen Bedingungen ausüben können. Deshalb müssen für die Unionsbürger, die nicht Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaats sind, insbesondere bezüglich der Wohnsitzdauer und des Wohnsitznachweises die gleichen Bedingungen gelten, wie sie gegebenenfalls für die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats gelten. Die Unionsbürger, die keine Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats sind, dürfen keinen besonderen Voraussetzungen unterworfen sein, es sei denn, die unterschiedliche Behandlung von in- und ausländischen Staatsangehörigen wäre durch besondere Umstände letzterer gerechtfertigt, die sie von den ersteren unterscheiden.

Artikel 8b Absatz 1 des Vertrags garantiert das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen im Wohnsitzmitgliedstaat, ohne es an die Stelle des aktiven und passiven Wahlrechts in dem Mitgliedstaat zu setzen, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt. Die freie Entscheidung dieser Unionsbürger, ob sie an den Kommunalwahlen im Wohnsitzmitgliedstaat teilnehmen wollen oder nicht, ist zu respektieren. Deshalb ist es sachgerecht, daß diese Bürger ihren Willen zum Ausdruck bringen, ihr Wahlrecht dort auszuüben, wohingegen in Mitgliedstaaten, in denen keine Wahlpflicht besteht, eine Eintragung dieser Bürger von Amts wegen zugelassen werden kann.

Die Kommunalverwaltung der Mitgliedstaaten spiegelt politische und rechtliche Traditionen wider und zeichnet sich durch eine große Vielfalt der Strukturen aus. Der Begriff der Kommunalwahlen ist nicht in allen Mitgliedstaaten identisch. Daher sollte der Gegenstand der Richtlinie durch die Definition des Begriffs der Kommunalwahlen präzisiert werden. Diese Wahlen schließen die allgemeinen und unmittelbaren Wahlen auf der Ebene der lokalen Gebietskörperschaften der Grundstufe und ihrer Untergliederungen ein. Es handelt sich sowohl um die allgemeinen unmittelbaren Wahlen zu den kommunalen Vertretungskörperschaften als auch um die Wahlen der Mitglieder der kommunalen Exekutivorgane.

Der Ausschluß vom passiven Wahlrecht kann sich aus einer Einzelfallentscheidung der Behörden des Wohnsitz- oder des Herkunftsmitgliedstaats ergeben. Angesichts der politischen Bedeutung des Amtes eines kommunalen Mandatsträgers sollten die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen ergreifen können, um zu verhindern, daß eine in ihrem Herkunftsmitgliedstaat vom passiven Wahlrecht ausgeschlossene Person in dieses Recht allein deshalb wieder eingesetzt wird, weil sie ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat hat. Dieses besondere Problem von Kandidaten, die die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzen, rechtfertigt es, daß die Mitgliedstaaten, die dies für erforderlich halten, die Kandidaten nicht allein den Ausschlußvorschriften des Wohnsitzmitgliedstaats, sondern auch jenen des Herkunftsmitgliedstaats unterwerfen können. Unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist es ausreichend, das aktive Wahlrecht allein den Ausschlußgründen des Wohnsitzmitgliedstaats unterzuordnen.

Die Aufgaben des Exekutivorgangs der lokalen Gebietskörperschaften der Grundstufe können die Teilnahme an der Ausübung der Staatsgewalt und die Wahrung der allgemeinen Interessen umfassen. Die Mitgliedstaaten sollten folglich diese Ämter ihren Staatsangehörigen vorbehalten können. Außerdem sollten die Mitgliedstaaten zu diesem Zweck geeignete Maßnahmen ergreifen können, die jedoch die Möglichkeit der Staatsbürger der anderen Mitgliedstaaten, das passive Wahlrecht auszuüben, nicht über das für die Erreichung des obengenannten Ziels erforderliche Maß hinaus beschränken dürfen.

Ebenso ist es angemessen, daß die Teilnahme von kommunalen Mandatsträgern an der Wahl einer parlamentarischen Versammlung den eigenen Staatsangehörigen vorbehalten werden kann.

Wenn die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten die Eigenschaft eines kommunalen Mandatsträgers als unvereinbar mit anderen Ämtern ansehen, sollten die Mitgliedstaaten diese Unvereinbarkeit auf in anderen Mitgliedstaaten wahrgenommene gleichwertige Ämter ausdehnen können.

Jede Ausnahme von den allgemeinen Regeln dieser Richtlinie muß nach Artikel 8b Absatz 1 des Vertrags durch besondere Probleme eines Mitgliedstaats gerechtfertigt sein, wobei jede Ausnahmeregelung auf ihren Ausnahmecharakter hin überprüft werden muß.

Solche besonderen Probleme können sich insbesondere in einem Mitgliedstaat ergeben, in dem der Anteil von Unionsbürgern im Wahlalter, die in diesem Mitgliedstaat ihren Wohnsitz haben, ohne dessen Staatsangehörigkeit zu besitzen, ganz erheblich über dem Durchschnitt liegt. Ein Anteil von 20 v.H. solcher Unionsbürger an der gesamten Wählerschaft rechtfertigt eine Ausnahmeregelung, die sich auf das Kriterium der Wohnsitzdauer stützt.

Die Unionsbürgerschaft zielt darauf ab, die Unionsbürger in ihrem Aufnahmeland besser zu integrieren; in diesem Zusammenhang entspricht es den Absichten der Verfasser des Vertrags, jede Polarisierung zwischen den Listen von in- und ausländischen Kandidaten zu vermeiden.

Dieses Risiko der Polarisierung betrifft vornehmlich einen Mitgliedstaat, in dem der Anteil der Unionsbürger im Wahlalter, die nicht seine Staatsbürgerschaft besitzen, 20 v.H. aller Unionsbürger im Wahlalter mit Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat übersteigt. Von daher ist es wichtig, daß dieser Mitgliedstaat unter Beachtung von Artikel 8b des Vertrags besondere Bestimmungen hinsichtlich der Zusammensetzung der Kandidatenlisten vorsehen kann.

Es ist zu berücksichtigen, daß in bestimmten Mitgliedstaaten die dort wohnhaften Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten das Wahlrecht zum nationalen Parlament besitzen und infolgedessen die in dieser Richtlinie vorgesehenen Formalitäten erleichtert werden können.

Das Königreich Belgien weist besondere Gegebenheiten und Gleichgewichtsverhältnisse auf, da die belgische Verfassung (Artikel 1 bis 4) drei Amtssprachen und eine Aufteilung in Regionen und Gemeinschaften vorsieht. Die uneingeschränkte Anwendung dieser Richtlinie könnte daher in einigen Gemeinden zu Auswirkungen führen, aufgrund deren es angebracht ist, zur Berücksichtigung dieser Gegebenheiten und Gleichgewichtsverhältnisse eine Ausnahme von den Bestimmungen dieser Richtlinie vorzusehen.

Die Kommission wird eine Bewertung der rechtlichen und tatsächlichen Anwendung der Richtlinie, einschließlich der Entwicklung der Wählerschaft nach dem Inkrafttreten der Richtlinie, durchführen. Zu diesem Zweck wird sie dem Europäischen Parlament und dem Rat Bericht erstatten —

HAT FOLGENDE RICHTLINIE ERLASSEN:

Fußnote(n):

(1)

ABl. Nr. C 323 vom 21. 11. 1994.

(2)

Stellungnahme vom 14. September 1994 (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(3)

Stellungnahme vom 28. September 1994 (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

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