Präambel VO (EU) 2022/303

DIE EUROPÄISCHE KOMMISSION —

gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union,

gestützt auf die Verordnung (EU) 2019/1241 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 mit technischen Maßnahmen für die Erhaltung der Fischereiressourcen und den Schutz von Meeresökosystemen, zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1967/2006, (EG) Nr. 1224/2009 des Rates und (EU) Nr. 1380/2013, (EU) 2016/1139, (EU) 2018/973, (EU) 2019/472 und (EU) 2019/1022 des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr. 894/97, (EG) Nr. 850/98, (EG) Nr. 2549/2000, (EG) Nr. 254/2002, (EG) Nr. 812/2004 und (EG) Nr. 2187/2005 des Rates(1), insbesondere auf Artikel 15 Absatz 2,

in Erwägung nachstehender Gründe:

(1)
Gemäß Artikel 3 Absatz 2 Buchstabe b der Verordnung (EU) 2019/1241 sind technische Maßnahmen zu erlassen, die dazu beitragen sollen, in der Fischerei unbeabsichtigte Fänge empfindlicher Meerestiere, einschließlich der in der Richtlinie 92/43/EWG des Rates(2) und der Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates(3) aufgeführten Arten, zu minimieren und wenn möglich zu verhindern.
(2)
Der Schweinswal (Phocoena phocoena) ist eine streng geschützte Art gemäß Anhang IV der Richtlinie 92/43/EWG, in dem alle Wale als streng zu schützende Arten von gemeinschaftlichem Interesse aufgeführt sind, und ist in Anhang II der genannten Richtlinie als Art von gemeinschaftlichem Interesse aufgeführt, für deren Erhaltung besondere Schutzgebiete ausgewiesen werden müssen.
(3)
Die Population des Ostsee-Schweinswals unterscheidet sich genetisch erheblich von anderen Populationen. Der Internationale Rat für Meeresforschung (ICES) ist daher der Auffassung, dass die Ostsee-Schweinswal-Population als eine gesonderte Populationseinheit(4) bewirtschaftet werden sollte (im Folgenden „Ostsee-Schweinswal” ).
(4)
In Anhang XIII der Verordnung (EU) 2019/1241 sind Vorschriften auf regionaler Ebene für Maßnahmen zur Reduzierung der unbeabsichtigten Fänge empfindlicher Arten, einschließlich Walen, festgelegt und Gebiete mit Fangbeschränkungen, Zeiträume und Fanggerätebeschränkungen angegeben.
(5)
Gemäß Anhang XIII Nummer 3 der Verordnung (EU) 2019/1241 unterbreiten die Mitgliedstaaten aufgrund der vom ICES oder vom STECF validierten wissenschaftlichen Erkenntnisse über die negativen Auswirkungen von Fanggeräten auf empfindliche Arten nach Artikel 15 der genannten Verordnung gemeinsame Empfehlungen für zusätzliche Maßnahmen zur Reduzierung der unbeabsichtigten Fänge der betreffenden Arten.
(6)
Die ernsthafte Bedrohung für die Ostsee-Schweinswal-Population und die Notwendigkeit, Wiederherstellungsmaßnahmen zu ergreifen, wurden von den Vertragsparteien des Abkommens zur Erhaltung der Kleinwale in der Nord- und Ostsee (ASCOBANS) durch die Annahme des Wiederauffüllungsplans für den Ostsee-Schweinswal ( „Jastarnia-Plan” ) anerkannt. In diesem Plan, der 2002 ausgearbeitet und 2009 sowie 2016(5) überarbeitet wurde, werden unbeabsichtigte Fänge in der Stellnetzfischerei als die größte Bedrohung für das Überleben der Ostsee-Schweinswal-Population genannt.
(7)
Laut der Roten Liste(6) der Helsinki-Kommission für den Schutz der Meeresumwelt des Ostseegebiets (HELCOM) ist die Ostsee-Schweinswal-Population in der Ostsee in den letzten hundert Jahren drastisch zurückgegangen und es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass sie vom Aussterben bedroht ist.
(8)
Die im Rahmen des SAMBAH-Projekts im Jahr 2016 vorgelegten neuen Informationen über den Zustand der Ostsee-Schweinswal-Population(7) bezifferten die Populationsgröße des Ostsee-Schweinswals auf 497 Tiere.
(9)
Im Anschluss an ein Ersuchen der EU um ein Gutachten zu Sofortmaßnahmen zur Verhinderung von Beifängen von Gemeinem Delfin (Delphinus delphis) und Ostsee-Schweinswal (Phocoena phocoena) im Nordostatlantik hat der Internationale Rat für Meeresforschung (ICES) in seinem Gutachten vom 26. Mai 2020(8) die Höhe der unbeabsichtigten Fänge an Ostsee-Schweinswal berechnet, die es ermöglichen würden, die Population langfristig zu 95 % auf 50 % ihrer ökologischen Tragfähigkeit wiederaufzufüllen. Dieser Wert wurde auf 0,7 Exemplare pro Jahr berechnet. Um dieses Bewirtschaftungsziel zu erreichen sollten laut ICES alle Fischereien, bei denen Bedenken bestehen, geschlossen werden. Jeder unbeabsichtigte Fang nur eines Exemplars pro Jahr würde das Risiko des Aussterbens der Population weiter erhöhen. Der ICES stellte in seinem Gutachten fest, dass Schutzmaßnahmen angesichts der Lebenserwartung kleiner Wale nur dann wirksam sein können, wenn sie kontinuierlich über einen langen Zeitraum angewandt werden.
(10)
Der ICES empfahl in seinem Gutachten vom 26. Mai 2020 eine Reihe von Maßnahmen zur Begrenzung von Beifängen, die, wenn sie insgesamt umgesetzt werden, das Beifangrisiko für den Ostsee-Schweinswal unmittelbar verringern dürften. Zu diesen Maßnahmen gehören die Schließung der Nördlichen Midsjöbank für alle Fischereien mit Ausnahme von Reusen, Fischfallen und Langleinen, und die Schließung bestimmter Natura-2000-Gebiete und anderer Gebiete für den Fischfang mit Stellnetzen (d. h. Spiegelnetzen, Kiemennetzen und Semi-Treibnetzen). Ferner wird die obligatorische Verwendung akustischer Abschreckvorrichtungen an Stellnetzen in Gebieten mit einem geringen oder möglicherweise geringen Vorkommen von Ostsee-Schweinswal empfohlen.
(11)
Auf der Grundlage des ICES-Gutachtens(9) haben Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Lettland, Litauen, Polen und Schweden (regionale Gruppe „BALTFISH” ) im Dezember 2020 eine gemeinsame Empfehlung vorgelegt, in der Maßnahmen zur Verringerung der unbeabsichtigten Fänge von Ostsee-Schweinswal vorgeschlagen werden. Im September 2021 legte BALTFISH im Einklang mit demselben ICES-Gutachten eine neue gemeinsame Empfehlung mit zusätzlichen Schutzmaßnahmen für das Natura-2000-Gebiet Sydvästskånes utsjövatten (SE0430187) vor.
(12)
Die gemeinsamen Empfehlungen wurden vom Beirat für die Ostsee im Oktober 2020 und im Juli 2021 bewertet.
(13)
In der von der regionalen Gruppe BALTFISH im Dezember 2020 vorgelegten gemeinsamen Empfehlung wird vorgeschlagen, die Nördliche Midsjöbank, ein Kerngebiet des Ostsee-Schweinswals während der Kalbungszeit(10), für alle Fischereien mit Ausnahme von Reusen, Fischfallen und Langleinen zu schließen. Darin wird ferner vorgeschlagen, im Einklang mit dem ICES-Gutachten vom 26. Mai 2020 die Südliche Midsjöbank und eine Reihe von Natura-2000-Gebieten für den Fischfang mit Stellnetzen zu schließen. In der im September 2021 vorgelegten gemeinsamen Empfehlung wird die Schonzeit (1. November bis 30. April) für den Fischfang mit Stellnetzen im Natura-2000-Gebiet Sydvästskånes utsjövatten vorgeschlagen, das vom ICES ebenfalls als ein für den Ostsee-Schweinswal wichtiges Gebiet ausgewiesen wurde. Zusätzlich zu den im ICES-Gutachten aufgeführten Gebieten wurde in der im Dezember 2020 vorgelegten gemeinsamen Empfehlung die Schließung von Adler Grund und Rønne Bank (DK00VA261), einem Gebiet, in dem in den Wintermonaten gelegentlich Schweinswale vorkommen(11), zwischen dem 1. November und dem 31. Januar vorgeschlagen.
(14)
In der gemeinsamen Empfehlung vom Dezember 2020 wird ferner die ganzjährige obligatorische Verwendung akustischer Abschreckvorrichtungen innerhalb und außerhalb des Natura-2000-Gebiets Zatoka Pucka und Półwysep Helski (PLH220032) für die gesamte Putziger Wiek (Polen) vorgeschlagen. Der ICES beschränkte sein Gutachten auf das Gebiet innerhalb dieses Natura-2000-Gebiets. Der ICES empfahl jedoch, die Stellnetzfischerei im Gebiet östlich der Sandbank Ryf Mew (Äußere Putziger Wiek) zu schließen, da Ostsee-Schweinswale dort mit größerer Wahrscheinlichkeit vorkommen. In der gemeinsamen Empfehlung vom September 2021 wird eine obligatorische Verwendung akustischer Abschreckvorrichtungen (1. Mai bis 31. Oktober) an Stellnetzen im Natura-2000-Gebiet Sydvästskånes utsjövatten vorgeschlagen. Darüber hinaus empfahl der ICES, Stellnetze in weiteren Gebieten mit einem geringen oder möglicherweise geringen Vorkommen von Ostsee-Schweinswalen, die in diesen gemeinsamen Empfehlungen nicht berücksichtigt wurden, mit akustischen Abschreckvorrichtungen auszurüsten.
(15)
Die im Dezember 2020 vorgelegte gemeinsame Empfehlung wurde vom Wissenschafts-, Technik- und Wirtschaftsausschuss für die Fischerei (STECF) auf seiner Plenarsitzung vom März 2021 bewertet(12). Der STECF erklärte, dass die in dieser gemeinsamen Empfehlung vorgeschlagenen Maßnahmen zwar weitgehend mit den vom ICES vorgeschlagenen Maßnahmen im Einklang stehen, ihnen aber nicht vollständig entsprechen. Der STECF kam jedoch auch zu dem Schluss, dass diese Maßnahmen bei wirksamer Umsetzung dazu beitragen werden, unbeabsichtigte Fänge von Ostsee-Schweinswal zu verringern. Die mit der gemeinsamen Empfehlung vom September 2021 eingeführten Maßnahmen tragen im Einklang mit dem ICES-Gutachten weiter zum Erreichen dieses Ziels bei.
(16)
Gemäß beiden gemeinsamen Empfehlungen sollten die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass die Tätigkeiten der Fischereifahrzeuge kontrolliert werden, damit die vorgeschlagenen Maßnahmen umgesetzt werden. Der STECF kam bei der Bewertung der in der gemeinsamen Empfehlung vom Dezember 2020 vorgeschlagenen Maßnahmen zu dem Schluss(13), dass solche Maßnahmen die Genauigkeit der Aufzeichnung von Beifängen für geschützte, gefährdete und bedrohte Arten verbessern könnten.
(17)
Insgesamt ist der STECF der Auffassung, dass die Umsetzung der in der gemeinsamen Empfehlung vom Dezember 2020 vorgeschlagenen Maßnahmen dazu beitragen wird, unbeabsichtigte Fänge von Ostsee-Schweinswal zu verringern, und einen Schritt zur Verwirklichung der Ziele der Verordnung (EU) 2019/1241 darstellen würde. Daher sollten die vorgeschlagenen Maßnahmen in Anhang XIII der Verordnung (EU) 2019/1241 aufgenommen werden.
(18)
Die Kommission nimmt ferner zur Kenntnis, dass sich die Mitgliedstaaten in der im Dezember 2020 vorgelegten gemeinsamen Empfehlung verpflichten, so bald wie möglich an zusätzlichen Schutzmaßnahmen zu arbeiten, einschließlich zusätzlicher Maßnahmen in Bezug auf den Einsatz akustischer Abschreckvorrichtungen an Stellnetzen in Gebieten mit einem geringen oder möglicherweise geringen Vorkommen von Ostsee-Schweinswal, und sich bemühen werden, detailliertere Kontrollmaßnahmen im Zusammenhang mit der Kontrolle der Schutzmaßnahmen zu vereinbaren. Zusätzlich zu den bereits abgedeckten Bereichen verpflichten sich die Mitgliedstaaten in der im September 2021 vorgelegten gemeinsamen Empfehlung, zusätzliche Maßnahmen zur Einstellung des Fischfangs mit Stellnetzen in Gebieten auszuarbeiten, in denen Schweinswale nachgewiesen wurden.
(19)
Diese delegierte Verordnung gilt unbeschadet zusätzlicher Maßnahmen zum Schutz des Ostsee-Schweinswals, die die Kommission erlassen kann, einschließlich in hinreichend begründeten Fällen äußerster Dringlichkeit im Zusammenhang mit einer ernsthaften Bedrohung der Erhaltung der biologischen Meeresressourcen oder des Meeresökosystems gemäß Artikel 12 der Verordnung (EU) Nr. 1380/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates(14), sowie strengerer nationaler Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten gemäß der Verordnung (EU) Nr. 1380/2013 und der Verordnung (EU) 2019/1241 zu diesem Zweck in ihren Gewässern erlassen können.
(20)
Aus Gründen der Dringlichkeit im Zusammenhang mit der Notwendigkeit, die Ostsee-Schweinswal-Population mit sofortiger Wirkung zu schützen, sollte diese Verordnung unverzüglich in Kraft treten. Damit die Fischer genügend Zeit haben, ihre Schiffe mit akustischen Abschreckvorrichtungen auszustatten, sollte die Anwendung von Nummer 1.1 Buchstabe b im Anhang aufgeschoben werden —

HAT FOLGENDE VERORDNUNG ERLASSEN:

Fußnote(n):

(1)

ABl. L 198 vom 25.7.2019, S. 105.

(2)

Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. L 206 vom 22.7.1992, S. 7).

(3)

Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl. L 20 vom 26.1.2010, S. 7).

(4)

ICES, 2020. Ersuchen der EU um Sofortmaßnahmen zur Verhinderung von Beifängen von Gemeinem Delfin (Delphinus delphis) und Ostsee-Schweinswal (Phocoena phocoena) im Nordostatlantik. Bericht des Beratenden Ausschusses des ICES, 2020. ICES-Gutachten 2020, http://ices.dk/sites/pub/Publication%20Reports/Advice/2020/Special_Requests/eu.2020,04.pdf.

(5)

https://www.ascobans.org/sites/default/files/document/ASCOBANS_JastarniaPlan_MOP8.pdf

(6)

https://www.helcom.fi/wp-content/uploads/2019/08/HELCOM-Red-List-Phocoena-phocoena.pdf

(7)

NAMMCO–IMR. 2019. Bericht über den gemeinsamen Internationalen IMR/NAMMCO-Workshop über den Zustand der Schweinswale im Nordatlantik. Rev. 2020. Nordatlantische Kommission für Meeressäugetiere und Norwegisches Institut für Meeresforschung, Tromsø, Norwegen. SAMBAH-Studie.http://www.sambah.org/SAMBAH-Final-Report-FINAL-for-website-April-2017.pdf.

(8)

ICES, 2020. Ersuchen der EU um Sofortmaßnahmen zur Verhinderung von Beifängen von Gemeinem Delfin (Delphinus delphis) und Ostsee-Schweinswal (Phocoena phocoena) im Nordostatlantik. Bericht des Beratenden Ausschusses des ICES, 2020. ICES-Gutachten 2020.

(9)

ICES, 2020. Ersuchen der EU um Sofortmaßnahmen zur Verhinderung von Beifängen von Gemeinem Delfin (Delphinus delphis) und Ostsee-Schweinswal (Phocoena phocoena) im Nordostatlantik. Bericht des Beratenden Ausschusses des ICES, 2020. ICES-Gutachten 2020.

(10)

https://www.ices.dk/sites/pub/Publication%20Reports/Advice/2020/Special_Requests/eu.2020,04.pdf

(11)

https://stecf.jrc.ec.europa.eu/documents/43805/2850498/STECF-PLEN+21-01.pdf

(12)

https://stecf.jrc.ec.europa.eu/documents/43805/2850498/STECF-PLEN+21-01.pdf

(13)

https://stecf.jrc.ec.europa.eu/documents/43805/2850498/STECF-PLEN+21-01.pdf.

(14)

Verordnung (EU) Nr. 1380/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2013 über die Gemeinsame Fischereipolitik und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1954/2003 und (EG) Nr. 1224/2009 des Rates sowie zur Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr. 2371/2002 und (EG) Nr. 639/2004 des Rates und des Beschlusses 2004/585/EG des Rates (ABl. L 354 vom 28.12.2013, S. 22).

© Europäische Union 1998-2021

Tipp: Verwenden Sie die Pfeiltasten der Tastatur zur Navigation zwischen Normen.