Präambel RL 2012/13/EU

DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION —

gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 82 Absatz 2,

auf Vorschlag der Europäischen Kommission,

nach Zuleitung des Entwurfs des Gesetzgebungsakts an die nationalen Parlamente,

nach Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses(1),

nach Anhörung des Ausschusses der Regionen,

gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren(2),

in Erwägung nachstehender Gründe:

(1)
Die Union hat sich die Erhaltung und Weiterentwicklung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zum Ziel gesetzt. Nach den Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates vom 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere, insbesondere nach Nummer 33, soll der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Urteilen und anderen Entscheidungen von Justizbehörden zum Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen innerhalb der Union werden, da eine verbesserte gegenseitige Anerkennung und die notwendige Annäherung der Rechtsvorschriften die Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden verbessern und den Schutz der Rechte des Einzelnen durch die Justiz erleichtern würden.
(2)
Am 29. November 2000 hat der Rat im Einklang mit den Schlussfolgerungen von Tampere ein Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen(3) verabschiedet. In der Einleitung dieses Programms heißt es, die gegenseitige Anerkennung „soll es ermöglichen, nicht nur die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten” , „sondern auch den Schutz der Rechte des Einzelnen zu verstärken” .
(3)
Die Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen in Strafsachen setzt gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege voraus. Das Maß der gegenseitigen Anerkennung hängt von einer Reihe von Parametern ab; dazu gehören Mechanismen für den Schutz der Rechte von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen sowie gemeinsame Mindestnormen, die erforderlich sind, um die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung zu erleichtern.
(4)
Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen kann nur in einem Klima des Vertrauens vollständig zum Tragen kommen, in dem nicht nur die Justizbehörden, sondern alle an Strafverfahren beteiligten Akteure Entscheidungen der Justizbehörden anderer Mitgliedstaaten als denen ihrer eigenen Justizbehörden gleichwertig ansehen; dies setzt nicht nur Vertrauen in die Angemessenheit der Rechtsvorschriften anderer Mitgliedstaaten voraus, sondern auch Vertrauen in die ordnungsgemäße Anwendung dieser Vorschriften.
(5)
In Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden „Charta” ) und Artikel 6 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden „EMRK” ) ist das Recht auf ein faires Verfahren verankert. Artikel 48 Absatz 2 der Charta gewährleistet die Achtung der Verteidigungsrechte.
(6)
In Artikel 6 der Charta und Artikel 5 EMRK ist das Recht auf Freiheit und Sicherheit verankert. Jedwede Einschränkungen dieses Rechts dürfen nicht über die Einschränkungen hinausgehen, die gemäß Artikel 5 EMRK und nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zulässig sind.
(7)
Zwar sind alle Mitgliedstaaten Vertragsparteien der EMRK, doch hat die Erfahrung gezeigt, dass dadurch allein nicht immer ein hinreichendes Maß an Vertrauen in die Strafjustiz anderer Mitgliedstaaten geschaffen wird.
(8)
Zur Stärkung des gegenseitigen Vertrauens bedarf es detaillierter Bestimmungen zum Schutz der Verfahrensrechte und -garantien, die auf die Charta und die EMRK zurückgehen.
(9)
Artikel 82 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union sieht die Festlegung von in den Mitgliedstaaten anwendbaren Mindestvorschriften zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension vor. Dort werden „die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren” als einer der Bereiche genannt, in denen Mindestvorschriften festgelegt werden können.
(10)
Gemeinsame Mindestvorschriften sollten das Vertrauen in die Strafrechtspflege aller Mitgliedstaaten stärken, was wiederum zu einer wirksameren Zusammenarbeit der Justizbehörden in einem Klima gegenseitigen Vertrauens führen sollte. Solche gemeinsamen Mindestvorschriften sollten im Bereich der Belehrung in Strafverfahren festgelegt werden.
(11)
Am 30. November 2009 hat der Rat eine Entschließung über einen Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigten oder Beschuldigten in Strafverfahren(4) (im Folgenden „Fahrplan” ) angenommen. In dem Fahrplan, der eine schrittweise Herangehensweise vorsieht, wird dazu aufgerufen, Maßnahmen zu ergreifen, die das Recht auf Übersetzungen und Dolmetschleistungen (Maßnahme A), das Recht auf Belehrung über die Rechte und auf Unterrichtung über die Beschuldigung (Maßnahme B), das Recht auf Rechtsbeistand und Prozesskostenhilfe (Maßnahme C), das Recht auf Kommunikation mit Angehörigen, Arbeitgebern und Konsularbehörden (Maßnahme D) und besondere Garantien für schutzbedürftige Verdächtige oder für Beschuldigte (Maßnahme E) betreffen. Im Fahrplan wird betont, dass die Reihenfolge der Rechte nur indikativ ist, was bedeutet, dass diese Reihenfolge entsprechend den Prioritäten geändert werden kann. Der Fahrplan soll in seiner Gesamtheit wirken und wird erst dann voll zum Tragen kommen, wenn alle darin vorgesehenen Einzelmaßnahmen umgesetzt worden sind.
(12)
Am 11. Dezember 2009 hat der Europäische Rat den Fahrplan begrüßt und ihn zum Bestandteil des Stockholmer Programms — Ein offenes und sicheres Europa im Dienste zum Schutz der Bürger(5) gemacht (Nummer 2.4). Der Europäische Rat betonte, dass der Fahrplan nicht abschließend sein soll, und ersuchte die Kommission, weitere Elemente von Mindestverfahrensrechten für Verdächtige und für beschuldigte Personen zu prüfen und zu bewerten, ob andere Themen, beispielsweise die Unschuldsvermutung, angegangen werden müssen, um eine bessere Zusammenarbeit auf diesem Gebiet zu fördern.
(13)
Die erste im Rahmen des Fahrplans angenommene Maßnahme, Maßnahme A, war die Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren(6).
(14)
Die vorliegende Richtlinie bezieht sich auf die Maßnahme B des Fahrplans. Sie legt gemeinsame Mindestnormen fest, die bei der Belehrung über die Rechte und bei der Unterrichtung über den Tatvorwurf gegenüber Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden, anzuwenden sind, um das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten zu verstärken. Diese Richtlinie baut auf den in der Charta verankerten Rechten auf, insbesondere auf den Artikeln 6, 47 und 48 der Charta, und legt dabei die Artikel 5 und 6 EMRK in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zugrunde. In dieser Richtlinie wird der Begriff „Tatvorwurf” verwendet; er hat denselben Bedeutungsinhalt wie der in Artikel 6 Absatz 1 EMRK verwendete Begriff „Anklage” .
(15)
Die Kommission kündigte in ihrer Mitteilung vom 20. April 2010 „Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts für die Bürger Europas — Aktionsplan zur Umsetzung des Stockholmer Programms” für 2010 die Vorlage eines Vorschlags über die Rechtsbelehrung und die Belehrung über den Tatvorwurf an.
(16)
Diese Richtlinie sollte für Verdächtige und für beschuldigte Personen ungeachtet ihres Rechtsstatus, ihrer Staatsangehörigkeit oder ihrer Nationalität gelten.
(17)
In einigen Mitgliedstaaten ist eine Behörde, die kein in Strafsachen zuständiges Gericht ist, für die Verhängung von Sanktionen hinsichtlich relativ geringfügiger Zuwiderhandlungen zuständig. Dies kann zum Beispiel bei häufig begangenen Verkehrsübertretungen der Fall sein, die möglicherweise nach einer Verkehrskontrolle festgestellt werden. In solchen Situationen wäre es unangemessen, die zuständige Behörde zu verpflichten, alle Rechte nach dieser Richtlinie zu gewährleisten. In den Fällen, in denen nach dem Recht eines Mitgliedstaats die Verhängung einer Sanktion wegen geringfügiger Zuwiderhandlungen durch eine solche Behörde vorgesehen ist und entweder bei einem in Strafsachen zuständigen Gericht ein Rechtsbehelf eingelegt werden kann oder die Möglichkeit besteht, die Sache anderweitig an ein solches Gericht zu verweisen, sollte diese Richtlinie daher nur auf das Verfahren vor diesem Gericht nach Einlegung eines solchen Rechtsmittels oder nach einer solchen Verweisung Anwendung finden.
(18)
Das Recht auf Belehrung über die Verfahrensrechte, das sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ableiten lässt, sollte durch die Richtlinie ausdrücklich festgelegt werden.
(19)
Die zuständigen Behörden sollten Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend mündlich oder schriftlich gemäß dieser Richtlinie über die nach innerstaatlichem Recht vorgesehenen Verfahrensrechte, die für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens wesentlich sind, belehren. Damit die betreffenden Rechte zweckmäßig und wirksam ausgeübt werden können, sollte diese Belehrung umgehend im Laufe des Verfahrens und spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durch die Polizei oder eine andere zuständige Behörde erfolgen.
(20)
In dieser Richtlinie werden Mindestvorschriften für die Belehrung über die Rechte von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen festgelegt. Dies berührt nicht die Informationen, die über andere Verfahrensrechte aufgrund der Charta, der EMRK, dem innerstaatlichen Recht und dem anwendbaren Unionsrecht in der Auslegung durch die zuständigen Gerichte erteilt werden. Ist die Belehrung über ein bestimmtes Recht erfolgt, so sollten die zuständigen Behörden sie nicht zu wiederholen brauchen, es sei denn, dies ist aufgrund der besonderen Umstände des Falls oder der besonderen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts erforderlich.
(21)
Bezugnahmen in dieser Richtlinie auf Verdächtige oder auf beschuldigte Personen, die festgenommen oder inhaftiert werden, sollten für alle Situationen gelten, in denen Verdächtigen oder beschuldigten Personen im Laufe des Strafverfahrens die Freiheit im Sinne des Artikels 5 Absatz 1 Buchstabe c EMRK in seiner Auslegung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entzogen wird.
(22)
Verdächtige oder beschuldigte Personen sollten bei ihrer Festnahme oder Inhaftierung über die anwendbaren Verfahrensrechte im Wege einer schriftlichen Erklärung der Rechte belehrt werden, die so gut verständlich abgefasst ist, dass sie diesen Personen dabei hilft, ihre Rechte zu verstehen. Eine solche Erklärung der Rechte sollte jeder festgenommenen Person umgehend ausgehändigt werden, wenn ihr durch das Eingreifen der Strafverfolgungsbehörden im Rahmen eines Strafverfahrens die Freiheit entzogen wird. Sie sollte grundlegende Informationen über jedwede Möglichkeit enthalten, die Rechtmäßigkeit der Festnahme anzufechten, eine Haftprüfung zu erwirken oder einen Antrag auf vorläufige Haftentlassung zu stellen, wenn und soweit solche Rechte nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften bestehen. Um den Mitgliedstaaten die Abfassung einer solchen Erklärung der Rechte zu erleichtern, enthält Anhang I ein Muster. Dieses Muster enthält lediglich ein Beispiel und kann im Zusammenhang mit dem Bericht der Kommission über die Umsetzung dieser Richtlinie und ferner nach Inkrafttreten aller Maßnahmen des Fahrplans überprüft werden. Die Erklärung der Rechte kann auch andere in den Mitgliedstaaten geltende relevante Verfahrensrechte umfassen.
(23)
Die besonderen Bedingungen und Vorschriften über das Recht von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen, dass eine andere Person über ihre Festnahme oder Inhaftierung unterrichtet wird, werden von den Mitgliedstaaten in ihrem innerstaatlichen Recht festgelegt. Die Ausübung dieses Rechts sollte, wie im Fahrplan angegeben, nicht den ordnungsgemäßen Verlauf des Strafverfahrens beeinträchtigen.
(24)
Diese Richtlinie berührt nicht die Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts für die Sicherheit von Personen in Gewahrsamseinrichtungen.
(25)
Die Mitgliedstaaten sollten bei der Belehrung und Unterrichtung gemäß dieser Richtlinie sicherstellen, dass den Verdächtigen oder den beschuldigten Personen erforderlichenfalls Übersetzungen und Dolmetschleistungen in einer Sprache, die sie verstehen, gemäß den Standards der Richtlinie 2010/64/EU bereitgestellt werden.
(26)
Bei der Belehrung und Unterrichtung von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen gemäß dieser Richtlinie sollten die zuständigen Behörden Personen, die zum Beispiel aufgrund ihres jugendlichen Alters oder aufgrund ihres geistigen oder körperlichen Zustands nicht in der Lage sind, den Inhalt oder die Bedeutung der Belehrung oder Unterrichtung zu verstehen, besondere Aufmerksamkeit zuteil werden lassen.
(27)
Personen, die der Begehung einer Straftat beschuldigt werden, sollten alle Informationen über den Tatvorwurf erteilt werden, die sie benötigen, um ihre Verteidigung vorzubereiten, und die zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens notwendig sind.
(28)
Die Unterrichtung von Verdächtigen oder beschuldigten Personen über die strafbare Handlung, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden, sollte umgehend erfolgen und spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung durch die Polizei oder eine andere zuständige Behörde und ohne Gefährdung der laufenden Ermittlungen. Eine Beschreibung der Umstände der strafbaren Handlung, deren die Person verdächtigt oder beschuldigt wird, einschließlich, sofern bekannt, der Zeit und des Ortes sowie der möglichen rechtlichen Beurteilung der mutmaßlichen Straftat sollte — je nach Stadium des Strafverfahrens, in der sie gegeben wird — hinreichend detailliert gegeben werden, so dass ein faires Verfahren gewährleistet und eine wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte ermöglicht wird.
(29)
Verändern sich im Laufe des Strafverfahrens die Einzelheiten des Tatvorwurfs so weit, dass die Stellung der Verdächtigen oder der beschuldigten Personen in beträchtlichem Umfang betroffen ist, so sollte ihnen dies mitgeteilt werden, wenn dies notwendig ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten, und zwar so rechtzeitig, dass eine wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte ermöglicht wird.
(30)
Dokumente und gegebenenfalls Fotos, Audio- und Videoaufzeichnungen, die wesentlich sind, um die Rechtmäßigkeit einer Festnahme oder Inhaftierung von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen gemäß dem innerstaatlichen Recht wirksam anzufechten, sollten Verdächtigen oder beschuldigten Personen oder ihren Rechtsanwälten spätestens bereitgestellt werden, bevor eine zuständige Justizbehörde über die Rechtmäßigkeit der Festnahme oder Inhaftierung gemäß Artikel 5 Absatz 4 EMRK entscheidet, und zwar so rechtzeitig, dass die wirksame Ausübung des Rechts, die Rechtmäßigkeit der Festnahme oder Inhaftierung anzufechten, ermöglicht wird.
(31)
Für die Zwecke dieser Richtlinie sollte der Zugang zu Beweismitteln im Sinne des innerstaatlichen Rechts, die sich zugunsten oder zulasten des Verdächtigen oder der beschuldigten Person auswirken und sich im Besitz der für das gegenständliche Strafverfahren zuständigen Behörden befinden, den Zugang zu Unterlagen, wie Dokumenten und gegebenenfalls Fotos, sowie Audio- und Videoaufzeichnungen, umfassen. Diese Unterlagen können in einer Verfahrensakte enthalten sein oder sich anderweitig auf geeignete Weise gemäß dem innerstaatlichen Recht im Besitz der zuständigen Behörden befinden.
(32)
Der Zugang zu den im Besitz der zuständigen Behörden befindlichen Beweismitteln zugunsten oder zulasten des Verdächtigen oder der beschuldigten Person kann nach den Bestimmungen dieser Richtlinie gemäß dem innerstaatlichen Recht verweigert werden, wenn damit das Leben oder die Grundrechte einer anderen Person ernsthaft gefährdet werden könnten oder wenn die Verweigerung des Zugangs zum Schutz eines wichtigen öffentlichen Interesses unbedingt erforderlich ist. Jede Verweigerung des Zugangs muss gegen die Verteidigungsrechte des Verdächtigen oder der beschuldigten Person abgewogen werden, wobei die verschiedenen Stadien des Strafprozesses zu berücksichtigen sind. Einschränkungen des Zugangs sollten eng und im Einklang mit dem Grundsatz des Rechts auf ein faires Verfahren, wie es in der EMRK vorgesehen ist und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Rechtsprechung ausgelegt wird, ausgelegt werden.
(33)
Das Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte sollte unbeschadet der Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts zum Schutz personenbezogener Daten und des Aufenthaltsorts geschützter Zeugen gewährt werden.
(34)
Die in dieser Richtlinie vorgesehene Einsicht in die Verfahrensakte sollte unentgeltlich gewährt werden, unbeschadet der innerstaatlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, nach denen Gebühren für von den Akten anzufertigende Kopien oder für die Übersendung von Unterlagen an die betreffende Person oder deren Rechtsanwalt zu entrichten sind.
(35)
Erfolgt gemäß dieser Richtlinie eine Belehrung oder Unterrichtung, so sollten die zuständigen Behörden gemäß den nach innerstaatlichem Recht bestehenden Verfahren für Aufzeichnungen eine Aufzeichnung darüber machen, ohne dass daraus eine zusätzliche Verpflichtung erwächst, neue Verfahren einzuführen, oder zusätzlicher Verwaltungsaufwand entsteht.
(36)
Verdächtige oder beschuldigte Personen oder ihre Rechtsanwälte sollten das Recht haben, ein etwaiges Versäumnis oder eine etwaige Verweigerung der Belehrung oder Unterrichtung oder der Offenlegung von bestimmten Unterlagen gemäß dieser Richtlinie durch die zuständigen Behörden nach dem innerstaatlichen Recht anzufechten. Dieses Recht zieht nicht die Verpflichtung der Mitgliedstaaten nach sich, ein besonderes Rechtsbehelfsverfahren, einen gesonderten Mechanismus oder ein Beschwerdeverfahren vorzusehen, in dessen Rahmen das Versäumnis oder die Verweigerung angefochten werden kann.
(37)
Unbeschadet der Unabhängigkeit der Gerichte und der Unterschiede in der Organisation der Justizsysteme innerhalb der Union sollten die Mitgliedstaaten eine angemessene Schulung der zuständigen Beamten der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Ziele dieser Richtlinie durchführen oder fördern.
(38)
Die Mitgliedstaaten sollten die erforderlichen Maßnahmen treffen, um dieser Richtlinie nachzukommen. Eine praktische und wirksame Umsetzung einiger Bestimmungen, wie beispielsweise der Bestimmung über die Verpflichtung zur Belehrung der Verdächtigen oder der beschuldigten Personen über ihre Rechte in einfacher und leicht verständlicher Sprache, könnte auf mehrerlei Weise, auch im Wege nichtgesetzgeberischer Maßnahmen, erreicht werden, wie beispielsweise durch geeignete Schulungen für die zuständigen Behörden oder durch eine in einfacher und nicht-fachlicher Sprache abgefasste Erklärung der Rechte, die ein Laie ohne Kenntnisse des Strafprozessrechts leicht versteht.
(39)
Das in dieser Richtlinie vorgesehene Recht auf schriftliche Rechtsbelehrung bei der Festnahme sollte entsprechend auch für Personen gelten, die für die Zwecke der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gemäß dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten(7) festgenommen werden. Um den Mitgliedstaaten die Abfassung einer Erklärung der Rechte für diese Personen zu erleichtern, enthält Anhang II ein Muster. Dieses Muster ist lediglich ein Beispiel und kann im Zusammenhang mit dem Bericht der Kommission über die Umsetzung dieser Richtlinie und ferner nach Inkrafttreten aller Maßnahmen des Fahrplans überprüft werden.
(40)
Mit dieser Richtlinie werden Mindestvorschriften erlassen. Die Mitgliedstaaten können die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte ausweiten, um auch in Situationen, die von dieser Richtlinie nicht ausdrücklich erfasst sind, ein höheres Schutzniveau zu bieten. Das Schutzniveau sollte nie unter den Standards der EMRK in der Auslegung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte liegen.
(41)
Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der Charta anerkannt wurden. Mit dieser Richtlinie sollen insbesondere das Recht auf Freiheit, das Recht auf ein faires Verfahren und die Verteidigungsrechte gefördert werden. Sie sollte entsprechend umgesetzt werden.
(42)
Die Bestimmungen dieser Richtlinie, die den in der EMRK gewährleisteten Rechten entsprechen, sollten im Einklang mit diesen Rechten, wie sie in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ausgelegt werden, ausgelegt und umgesetzt werden.
(43)
Da das Ziel dieser Richtlinie, nämlich die Festlegung gemeinsamer Mindestnormen in Bezug auf das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren, durch einseitige Maßnahmen der Mitgliedstaaten weder auf nationaler noch auf regionaler oder lokaler Ebene verwirklicht werden kann und daher wegen seines Umfangs und seiner Wirkungen besser auf Unionsebene zu verwirklichen ist, kann die Union im Einklang mit dem in Artikel 5 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geht diese Richtlinie nicht über das für die Erreichung dieses Ziels erforderliche Maß hinaus.
(44)
Gemäß Artikel 3 des dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union beigefügten Protokolls (Nr. 21) über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts haben diese Mitgliedstaaten schriftlich mitgeteilt, dass sie sich an der Annahme und Anwendung dieser Richtlinie beteiligen möchten.
(45)
Gemäß den Artikeln 1 und 2 des dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union beigefügten Protokolls (Nr. 22) über die Position Dänemarks beteiligt sich Dänemark nicht an der Annahme dieser Richtlinie, die daher für Dänemark weder bindend noch anwendbar ist —

HABEN FOLGENDE RICHTLINIE ERLASSEN:

Fußnote(n):

(1)

ABl. C 54 vom 19.2.2011, S. 48.

(2)

Standpunkt des Europäischen Parlaments vom 13. Dezember 2011 (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht) und Beschluss des Rates vom 26. April 2012 (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(3)

ABl. C 12 vom 15.1.2001, S. 10.

(4)

ABl. C 295 vom 4.12.2009, S. 1.

(5)

ABl. C 115 vom 4.5.2010, S. 1.

(6)

ABl. L 280 vom 26.10.2010, S. 1.

(7)

ABl. L 190 vom 18.7.2002, S. 1.

© Europäische Union 1998-2021

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