Präambel RL 2016/800/EU

DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION —

gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 82 Absatz 2 Buchstabe b,

auf Vorschlag der Europäischen Kommission,

nach Zuleitung des Entwurfs des Gesetzgebungsakts an die nationalen Parlamente,

nach Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses(1),

nach Anhörung des Ausschusses der Regionen,

gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren(2),

in Erwägung nachstehender Gründe:

(1)
Mit dieser Richtlinie sollen Verfahrensgarantien festgelegt werden, um zu gewährleisten, dass Kinder, das heißt Personen unter 18 Jahren, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, diese Verfahren verstehen, ihnen folgen und ihr Recht auf ein faires Verfahren ausüben können, um zu verhindern, dass Kinder erneut straffällig werden und um ihre soziale Integration zu fördern.
(2)
Durch die Festlegung von gemeinsamen Mindestvorschriften zum Schutz der Verfahrensrechte von Kindern, die Verdächtigen oder beschuldigte Personen sind, zielt diese Richtlinie darauf ab, das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege zu stärken und auf diese Weise die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen zu erleichtern. Auch sollten durch die Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften Hindernisse für die Freizügigkeit der Unionsbürger im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten beseitigt werden.
(3)
Zwar sind die Mitgliedstaaten Vertragsparteien der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) und des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte und des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes, doch hat die Erfahrung gezeigt, dass dadurch allein nicht immer ein hinreichendes Maß an Vertrauen in die Strafrechtspflege anderer Mitgliedstaaten geschaffen wird.
(4)
Am 30. November 2009 hat der Rat eine Entschließung über einen Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigten oder Beschuldigten in Strafverfahren (im Folgenden „Fahrplan” )(3) angenommen. In dem Fahrplan, der eine schrittweise Herangehensweise vorsieht, wird dazu aufgerufen, Maßnahmen zu ergreifen, die das Recht auf Übersetzungen und Dolmetschleistungen (Maßnahme A), das Recht auf Belehrung über die Rechte und Unterrichtung über die Beschuldigung (Maßnahme B), das Recht auf Rechtsbeistand und Prozesskostenhilfe (Maßnahme C), das Recht auf Kommunikation mit Angehörigen, Arbeitgebern und Konsularbehörden (Maßnahme D) und besondere Garantien für schutzbedürftige Verdächtige oder Beschuldigte (Maßnahme E) betreffen. Im Fahrplan wird betont, dass die Reihenfolge dieser Rechte nur indikativ ist, was bedeutet, dass diese Reihenfolge entsprechend den Prioritäten geändert werden kann. Der Fahrplan soll in seiner Gesamtheit wirken und wird erst dann voll zum Tragen kommen, wenn alle darin vorgesehenen Einzelmaßnahmen umgesetzt worden sind.
(5)
Am 11. Dezember 2009 begrüßte der Europäische Rat den Fahrplan und machte ihn zum Bestandteil des Stockholmer Programms — Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger(4) (Nummer 2.4). Der Europäische Rat betonte, dass der Fahrplan nicht abschließend sein soll, und ersuchte die Kommission, weitere Elemente von Mindestverfahrensrechten für Verdächtige und beschuldigte Personen zu prüfen und zu bewerten, ob andere Themen wie beispielsweise die Unschuldsvermutung angegangen werden müssen, um eine bessere Zusammenarbeit auf diesem Gebiet zu fördern.
(6)
Bisher sind vier Maßnahmen zu Verfahrensrechten in Strafverfahren gemäß dem Fahrplan erlassen worden, und zwar die Richtlinien 2010/64/EU(5), 2012/13/EU(6), 2013/48/EU(7) und die Richtlinie (EU) 2016/343(8) des Europäischen Parlaments und des Rates.
(7)
Unter Berücksichtigung der Leitlinien des Europarates für eine kindgerechte Justiz fördert diese Richtlinie die Rechte des Kindes.
(8)
Wenn Kinder Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren oder Personen sind, gegen die ein Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls auf der Grundlage des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates(9) (im Folgenden „gesuchte Personen” ) eingeleitet wurde, sollten die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass das Kindeswohl gemäß Artikel 24 Absatz 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden „Charta” ) immer eine vorrangige Erwägung ist.
(9)
Kindern, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, sollte besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden, um das Potenzial für ihre Entwicklung und Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu wahren.
(10)
Diese Richtlinie sollte für Kinder gelten, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, sowie für Kinder, die gesuchte Personen sind. Für Kinder, die gesuchte Personen sind, sollten die einschlägigen Bestimmungen dieser Richtlinie ab dem Zeitpunkt ihrer Festnahme im Vollstreckungsmitgliedstaat gelten.
(11)
Diese Richtlinie oder bestimmte Vorschriften dieser Richtlinie sollten auch für Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren und für gesuchte Personen gelten, die bei Verfahrensbeginn Kinder waren, im Verlauf des Verfahrens jedoch das 18. Lebensjahr vollendet haben, wenn die Anwendung dieser Richtlinie unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles, einschließlich des Reifegrads und der Schutzbedürftigkeit der betroffenen Person, angemessen ist.
(12)
Den Mitgliedstaaten wird nahegelegt, in Fällen, in denen eine Person zu dem Zeitpunkt, zu dem sie einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt wird, das 18. Lebensjahr bereits vollendet hat, die Straftat jedoch begangen worden war, als die Person ein Kind war, die in dieser Richtlinie vorgesehenen Verfahrensgarantien anzuwenden, bis die betreffende Person das 21. Lebensjahr vollendet hat, zumindest für Straftaten, die derselbe Verdächtige oder dieselbe beschuldigte Person begangen hat und die gemeinsam untersucht und strafrechtlich verfolgt werden, da sie untrennbar mit Strafverfahren verknüpft sind, die gegen die betreffende Person eingeleitet wurden, bevor diese das 18. Lebensjahr vollendet hatte.
(13)
Die Mitgliedstaaten sollten das Alter des Kindes aufgrund von dessen eigenen Aussagen, Überprüfungen des Personenstands des Kindes, dokumentarischen Recherchen, sonstigen Belegen und — wenn solche Belege nicht verfügbar oder nicht aussagekräftig sind — einer medizinischen Untersuchung bestimmen. Eine medizinische Untersuchung sollte als letztes Mittel und unter strikter Achtung der Rechte des Kindes, seiner körperlichen Unversehrbarkeit und der Menschenwürde durchgeführt werden. Falls weiterhin Zweifel hinsichtlich des Alters einer Person bestehen, sollte diese Person für die Zwecke dieser Richtlinie als Kind gelten.
(14)
In Bezug auf bestimmte geringfügige Zuwiderhandlungen sollte diese Richtlinie keine Anwendung finden. Sie sollte jedoch Anwendung finden, wenn einem Kind, das Verdächtiger oder beschuldigte Person ist, die Freiheit entzogen wird.
(15)
In einigen Mitgliedstaaten ist eine Behörde, die kein in Strafsachen zuständiges Gericht ist, für die Verhängung anderer Sanktionen als eines Freiheitsentzugs hinsichtlich relativ geringfügiger Zuwiderhandlungen zuständig. Dies kann zum Beispiel bei häufig begangenen Straßenverkehrsübertretungen der Fall sein, die möglicherweise nach einer Verkehrskontrolle festgestellt werden. In solchen Situationen wäre es unangemessen, die zuständigen Behörden zu verpflichten, alle Rechte nach dieser Richtlinie zu gewährleisten. In den Fällen, in denen nach dem Recht eines Mitgliedstaats die Verhängung einer Sanktion wegen geringfügiger Zuwiderhandlungen durch eine solche Behörde vorgesehen ist und entweder bei einem in Strafsachen zuständigen Gericht ein Rechtsbehelf eingelegt werden kann oder die Möglichkeit besteht, die Sache anderweitig an ein solches Gericht zu verweisen, sollte diese Richtlinie daher nur auf das Verfahren vor diesem Gericht nach Einlegung eines solchen Rechtsbehelfs oder nach einer solchen Verweisung Anwendung finden.
(16)
In einigen Mitgliedstaaten gelten bestimmte geringfügige Zuwiderhandlungen, insbesondere geringfügige Straßenverkehrsübertretungen, geringfügige Zuwiderhandlungen gegen allgemeine Gemeindeverordnungen und geringfügige Zuwiderhandlungen gegen die öffentliche Ordnung, als Straftaten. In solchen Situationen wäre es unangemessen, die zuständigen Behörden zu verpflichten, alle Rechte nach dieser Richtlinie zu gewährleisten. In Fällen, in denen nach dem Recht eines Mitgliedstaats bei geringfügigen Zuwiderhandlungen kein Freiheitsentzug als Sanktion verhängt werden kann, sollte diese Richtlinie daher nur auf das Verfahren vor einem in Strafsachen zuständigen Gericht Anwendung finden.
(17)
Diese Richtlinie sollte nur für Strafverfahren gelten. Sie sollte nicht für andere Verfahrensarten gelten, insbesondere Verfahren, die speziell auf Kinder abgestimmt sind und die zu Schutz-, Maßregelungs- oder Erziehungsmaßnahmen führen könnten.
(18)
Bei der Umsetzung dieser Richtlinie sollten die Bestimmungen der Richtlinien 2012/13/EU und 2013/48/EU berücksichtigt werden. Um den besonderen Bedürfnissen und Schutzbedürftigkeiten von Kindern Rechnung zu tragen, sieht die vorliegende Richtlinie weitere ergänzende Garantien in Bezug auf die Kindern und dem Träger der elterlichen Verantwortung mitzuteilenden Informationen vor.
(19)
Kinder sollten über allgemeine Aspekte der Durchführung des Verfahrens unterrichtet werden. Zu diesem Zweck sollten sie insbesondere eine kurze Erläuterung der nächsten Verfahrensschritte, soweit dies im Hinblick auf die Belange des Strafverfahrens möglich ist, und über die Rolle der beteiligten Behörden erhalten. Die mitzuteilenden Informationen sollten von den Umständen des Falles abhängen.
(20)
Kinder sollten Informationen im Zusammenhang mit dem Recht auf medizinische Untersuchung in der frühestmöglichen geeigneten Phase des Verfahrens erhalten, spätestens bei Freiheitsentzug, wenn eine solche Maßnahme in Bezug auf das Kind ergriffen wird.
(21)
Wird dem Kind die Freiheit entzogen, so sollte die ihm gemäß der Richtlinie 2012/13/EU ausgehändigte Erklärung der Rechte klare Hinweise zu den in der vorliegenden Richtlinie vorgesehenen Rechten enthalten.
(22)
Die Mitgliedstaaten sollten auch den Träger der elterlichen Verantwortung schriftlich, mündlich oder in beiden Formen über die geltenden Verfahrensrechte unterrichten. Diese Unterrichtung sollte so rasch wie möglich und so detailliert wie nötig erfolgen, um ein faires Verfahren und eine wirksame Ausübung der Rechte des Kindes zu gewährleisten.
(23)
Unter bestimmten Umständen, die sich auch nur auf eine der Personen beziehen können, die Träger der elterlichen Verantwortung sind, sollten die Informationen einem anderen geeigneten Erwachsenen, der vom Kind benannt und als solcher von der zuständigen Behörde gebilligt wird, mitgeteilt werden. Einer dieser Umstände ist gegeben, wenn objektive und tatsächliche Gründe darauf hindeuten oder den Verdacht begründen, dass die Unterrichtung des Trägers der elterlichen Verantwortung das Strafverfahren erheblich gefährden könnte, insbesondere wenn Beweise zerstört oder verändert oder Zeugen beeinflusst werden könnten, oder der Träger der elterlichen Verantwortung gemeinsam mit dem Kind an der mutmaßlichen Straftat beteiligt gewesen sein könnte.
(24)
Fallen die Umstände weg, die dazu führten, dass die zuständigen Behörden die Informationen an einen anderen geeigneten Erwachsenen als den Träger der elterlichen Verantwortung übermittelten, sollte jede Information, die das Kind gemäß dieser Richtlinie erhält und die im Verlauf des Verfahrens erheblich bleibt, dem Träger der elterlichen Verantwortung übermittelt werden. Dieses Erfordernis sollte nicht zu einer unnötigen Verlängerung des Verfahrens führen.
(25)
Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen werden, haben das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gemäß der Richtlinie 2013/48/EU. Da Kinder schutzbedürftig und nicht immer in der Lage sind, ein Strafverfahren vollständig zu verstehen und ihm zu folgen, sollten sie in den in dieser Richtlinie bestimmten Situationen von einem Rechtsbeistand unterstützt werden. In diesen Situationen sollten die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass das Kind von einem Rechtsbeistand unterstützt wird, sofern ein solcher Rechtsbeistand nicht von dem Kind selbst oder einem Träger der elterlichen Verantwortung bestellt worden ist. Die Mitgliedstaaten sollten Prozesskostenhilfe bereitstellen, soweit dies notwendig ist, um die wirksame Unterstützung des Kindes durch einen Rechtsbeistand zu gewährleisten.
(26)
Unterstützung durch einen Rechtsbeistand gemäß dieser Richtlinie setzt voraus, dass das Kind Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gemäß der Richtlinie 2013/48/EU hat. Würde die Anwendung einer Bestimmung der Richtlinie 2013/48/EU dazu führen, dass ein Kind gemäß der vorliegenden Richtlinie nicht von einem Rechtsbeistand unterstützt werden könnte, sollte diese Bestimmung daher keine Anwendung auf das Recht eines Kindes auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gemäß der Richtlinie 2013/48/EU finden. Andererseits sollten Ausnahme- und Sonderregelungen in Bezug auf die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand gemäß der vorliegenden Richtlinie sich nicht auf das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gemäß der Richtlinie 2013/48/EU oder das Recht auf Prozesskostenhilfe gemäß der Charta und der EMRK sowie gemäß nationalem Recht und anderem Unionsrecht auswirken.
(27)
Die Bestimmungen dieser Richtlinie über die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand sollten unverzüglich Anwendung finden, wenn Kinder davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie Verdächtige oder beschuldigte Personen sind. Für die Zwecke dieser Richtlinie bedeutet Unterstützung durch einen Rechtsbeistand, dass das Kind von dem Rechtsbeistand juristische Unterstützung erhält und von ihm während des Strafverfahrens vertreten wird. Wenn die vorliegende Richtlinie die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand während der Befragung vorsieht, so sollte ein Rechtsbeistand anwesend sein. Unbeschadet des Rechts des Kindes auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gemäß der Richtlinie 2013/48/EU bedeutet Unterstützung durch einen Rechtsbeistand nicht, dass während jeder Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlung ein Rechtsbeistand anwesend sein muss.
(28)
Sofern dies mit dem Recht auf ein faires Verfahren vereinbar ist, umfasst die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Kindern, die Verdächtige oder beschuldigte Personen sind, Unterstützung durch einen Rechtsbeistand gemäß dieser Richtlinie zu gewähren, folgende Situationen nicht: Identifizierung des Kindes; Feststellung, ob Ermittlungen eingeleitet werden sollten; Feststellungen, um den Besitz von Waffen festzustellen oder ähnliche Sicherheitsfragen zu klären; Durchführung anderer als in dieser Richtlinie ausdrücklich genannter Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen wie Körperkontrollen, körperliche Untersuchungen, Blut-, Alkohol- oder ähnliche Tests oder die Aufnahme von Fotografien oder Fingerabdrücken; oder die Vorführung des Kindes vor einer zuständigen Behörde oder die Zuführung von Kindern an den Träger der elterlichen Verantwortung oder einen anderen geeigneten Erwachsenen gemäß dem nationalen Recht.
(29)
Wenn ein Kind, das anfänglich nicht Verdächtiger oder beschuldigte Person ist, wie beispielsweise ein Zeuge, zum Verdächtigen oder zur beschuldigten Person wird, sollte es das Recht haben, sich nicht selbst belasten zu müssen und die Aussage zu verweigern, entsprechend dem Unionsrecht und der EMRK und der Auslegung durch den Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden „Gerichtshof” ) und den Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Diese Richtlinie nimmt daher ausdrücklich auf den konkreten Fall Bezug, in dem ein Kind im Laufe der Befragung durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungsbehörde im Zusammenhang mit einem Strafverfahren selbst zum Verdächtigen oder zur beschuldigten Person wird. Wird ein Kind, das nicht Verdächtiger oder beschuldigte Person ist, im Laufe dieser Befragung zum Verdächtigen oder zur beschuldigten Person, sollte die Befragung ausgesetzt werden, bis das Kind davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass es Verdächtiger oder beschuldigte Person ist, und es gemäß dieser Richtlinie durch einen Rechtsbeistand unterstützt wird.
(30)
Sofern dies mit dem Recht auf ein faires Verfahren vereinbar ist, sollte es den Mitgliedstaaten möglich sein, von der Verpflichtung, Unterstützung durch einen Rechtsbeistand vorzusehen, abzuweichen, wenn diese unter Berücksichtigung der Umstände des Falles nicht verhältnismäßig ist, wobei das Kindeswohl immer eine vorrangige Erwägung sein sollte. Auf jeden Fall sollten Kinder durch einen Rechtsbeistand unterstützt werden, wenn sie einem zuständigen Gericht zur Entscheidung über eine Haft in jeder Verfahrensphase im Anwendungsbereich dieser Richtlinie vorgeführt werden sowie während einer Haft. Ferner sollte Freiheitsentzug nicht als Strafe verhängt werden, wenn das Kind nicht derart durch einen Rechtsbeistand unterstützt worden ist, dass es seine Verteidigungsrechte effektiv wahrnehmen konnte; und in jedem Fall während der Hauptverhandlungen. Die Mitgliedstaaten sollten die Möglichkeit haben, praktische Regelungen hierfür festzulegen.
(31)
Den Mitgliedstaaten sollte es möglich sein, aus zwingenden Gründen vorübergehend von der Verpflichtung, Unterstützung durch einen Rechtsbeistand vorzusehen, im vorgerichtlichen Stadium abzuweichen, nämlich wenn schwerwiegende, nachteilige Auswirkungen für das Leben, die Freiheit oder die körperliche Unversehrtheit einer Person abgewendet werden müssen oder wenn ein sofortiges Handeln der Ermittlungsbehörden zwingend geboten ist, um eine erhebliche Gefährdung eines Strafverfahrens in Bezug auf eine schwere Straftat abzuwenden, unter anderem um Informationen bezüglich mutmaßlicher Mittäter einer schweren Straftat einzuholen oder um den Verlust wichtiger Beweise in Bezug auf eine schwere Straftat zu verhindern. Bei einer vorübergehenden Abweichung aus einem dieser zwingenden Gründe sollte es den zuständigen Behörden möglich sein, Kinder zu befragen, ohne dass der Rechtsbeistand zugegen ist, vorausgesetzt, dass sie über ihr Recht, die Aussage zu verweigern, unterrichtet wurden und dieses Recht in Anspruch nehmen können, und die Befragung die Verteidigungsrechte, einschließlich des Rechts, sich nicht selbst belasten zu müssen, nicht beeinträchtigt. Es sollte möglich sein, Befragungen soweit notwendig zum ausschließlichen Zweck der Erlangung notwendiger Informationen zur Abwehr schwerwiegender, nachteiliger Auswirkungen auf das Leben, die Freiheit oder die körperliche Unversehrtheit einer Person oder zur Abwendung einer erheblichen Gefährdung des Strafverfahrens und in dem dafür erforderlichen Umfang durchzuführen. Ein Missbrauch dieser Ausnahmeregelung würde die Verteidigungsrechte grundsätzlich irreparabel beeinträchtigen.
(32)
Die Mitgliedstaaten sollten die Gründe und die Kriterien für diese vorübergehenden Abweichungen in ihrem nationalen Recht klar festlegen und sie sollten sie restriktiv nutzen. Jede vorübergehende Abweichung sollte verhältnismäßig, zeitlich streng begrenzt und nicht ausschließlich durch die Art oder die Schwere der mutmaßlichen Straftat begründet sein und sollte ein faires Verfahren insgesamt nicht beeinträchtigen. Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass bei Genehmigung einer vorübergehenden Abweichung nach dieser Richtlinie durch eine zuständige Behörde, die kein Gericht ist, die Entscheidung über die Genehmigung der vorübergehenden Abweichung von einem Gericht überprüft werden kann, zumindest in der Phase des Gerichtsverfahrens.
(33)
Die Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Kindern und ihrem Rechtsbeistand ist eine grundlegende Voraussetzung für die wirksame Wahrnehmung der Verteidigungsrechte und ein wesentlicher Bestandteil des Rechts auf ein faires Verfahren. Die Mitgliedstaaten sollten daher die Vertraulichkeit der Treffen und anderer Formen der Kommunikation zwischen dem Rechtsbeistand und dem Kind im Zusammenhang mit der in dieser Richtlinie vorgesehenen Unterstützung durch einen Rechtsbeistand ohne Ausnahme beachten. Diese Richtlinie lässt Verfahren unberührt, die Sachverhalte betreffen, in denen aufgrund objektiver und faktischer Umstände der Verdacht besteht, dass der Rechtsbeistand zusammen mit dem Kind an einer Straftat beteiligt ist. Strafbares Handeln des Rechtsbeistands sollte nicht als zulässige Unterstützung für Kinder im Rahmen dieser Richtlinie gelten. Die Pflicht zur Beachtung der Vertraulichkeit bedeutet nicht nur, dass die Mitgliedstaaten von einem Eingriff in diese Kommunikation oder einem Zugriff darauf absehen, sondern auch, dass sie, wenn Kindern die Freiheit entzogen ist oder diese sich anderweitig an einem Ort unter der Kontrolle des Staates befinden, dafür sorgen, dass Vorkehrungen für die Kommunikation diese Vertraulichkeit gewährleisten und schützen. Dies lässt Mechanismen unberührt, mit denen in Haftanstalten verhindert werden soll, dass inhaftierte Personen unerlaubte Sendungen erhalten, beispielsweise die Überprüfung von Korrespondenz, sofern es solche Mechanismen den zuständigen Behörden nicht ermöglichen, den Schriftwechsel zwischen Kindern und ihrem Rechtsbeistand zu lesen. Diese Richtlinie lässt ferner Verfahren des nationalen Rechts unberührt, nach denen die Weiterleitung von Korrespondenz abgelehnt werden kann, wenn der Absender nicht zustimmt, dass die Korrespondenz zuerst einem zuständigen Gericht vorgelegt wird.
(34)
Diese Richtlinie lässt eine Durchbrechung des Vertraulichkeitsgebots, zu der es im Zuge einer rechtmäßigen Überwachungsmaßnahme durch zuständige Behörden kommt, unberührt. Diese Richtlinie lässt ferner die Arbeit beispielsweise nationaler Nachrichtendienste unberührt, die auf den Schutz der nationalen Sicherheit gemäß Artikel 4 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) abzielt oder in den Anwendungsbereich des Artikels 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) fällt, wonach Teil III Titel V AEUV über den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit berühren darf.
(35)
Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, sollten das Recht auf individuelle Begutachtung haben, damit ihre besonderen Bedürfnisse in Bezug auf Schutz, Erziehung, Ausbildung und soziale Integration ermittelt werden können, damit festgestellt werden kann, ob und inwieweit sie während des Strafverfahrens besondere Maßnahmen benötigen würden, und damit der Grad ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit und die Angemessenheit einer bestimmten Strafe oder Erziehungsmaßnahme bestimmt werden kann.
(36)
Bei der individuellen Begutachtung sollte insbesondere der Persönlichkeit und des Reifegrads des Kindes, dem wirtschaftlichen, sozialen und familiären Hintergrund des Kindes, einschließlich des Lebensumfelds, sowie einer etwaigen spezifischen Schutzbedürftigkeit des Kindes, wie Lern- und Kommunikationsschwierigkeiten, Rechnung getragen werden.
(37)
Es sollte möglich sein, Umfang und Genauigkeit einer individuellen Begutachtung an die Umstände des Falles anzupassen, wobei die Schwere der mutmaßlichen Straftat und die Maßnahmen, die ergriffen werden können, falls das Kind einer solchen Straftat für schuldig befunden wird, zu berücksichtigen sind. Eine individuelle Begutachtung, die in Bezug auf das gleiche Kind in der jüngeren Vergangenheit durchgeführt wurde, könnte herangezogen werden, sofern sie auf den neuesten Stand gebracht wird.
(38)
Die zuständigen Behörden sollten alle aus einer individuellen Begutachtung gewonnenen Informationen berücksichtigen, wenn sie festlegen, ob spezifische Maßnahmen in Bezug auf das Kind ergriffen werden sollten, wie etwa Bereitstellung praktischer Unterstützung; wenn sie bewerten, ob vorbeugende Maßnahmen in Bezug auf das Kind angemessen und wirksam sind, wie Entscheidungen über Untersuchungshaft oder alternative Maßnahmen; und wenn sie, unter Berücksichtigung des individuellen Charakters und der individuellen Umstände des Kindes, im Zusammenhang mit dem Strafverfahren, einschließlich der Verurteilung, eine Entscheidung treffen oder eine Maßnahme ergreifen. Ist die individuelle Begutachtung noch nicht verfügbar, sollte dies die zuständigen Behörden nicht davon abhalten, solche Maßnahmen zu ergreifen bzw. Entscheidungen zu treffen, vorausgesetzt, die Bedingungen dieser Richtlinie werden eingehalten, einschließlich der Durchführung einer individuellen Begutachtung in der frühestmöglichen geeigneten Phase des Verfahrens. Die Angemessenheit und Wirksamkeit der vor Durchführung einer individuellen Begutachtung ergriffenen Maßnahmen oder getroffenen Entscheidungen können erneut geprüft werden, wenn die individuelle Begutachtung vorliegt.
(39)
Die individuelle Begutachtung sollte in der frühestmöglichen geeigneten Phase des Verfahrens und so rechtzeitig stattfinden, dass die daraus gewonnenen Informationen von einem Staatsanwalt, einem Richter oder einer anderen zuständigen Behörde vor der Vorlage der Anklageschrift für das Gerichtsverfahren berücksichtigt werden können. Dennoch sollte es möglich sein, eine Anklageschrift bei Fehlen einer individuellen Begutachtung vorzulegen, wenn dies dem Kindeswohl dienlich ist. Dies könnte beispielsweise der Fall sein, wenn ein Kind in Untersuchungshaft ist und das Warten auf die Verfügbarkeit der individuellen Begutachtung das Risiko der unnötigen Verlängerung dieser Haft bedeuten würde.
(40)
Die Mitgliedstaaten sollten von der Verpflichtung zur Vornahme einer individuellen Begutachtung abweichen können, wenn dies aufgrund der Umstände des Falles gerechtfertigt ist, wobei unter anderem die Schwere der mutmaßlichen Straftat und die Maßnahmen berücksichtigt werden sollten, die ergriffen werden könnten, falls das Kind einer solchen Straftat für schuldig befunden wird, sofern dies mit dem Kindeswohl vereinbar ist. In diesem Zusammenhang sollten alle relevanten Elemente berücksichtigt werden, einschließlich der Frage, ob das Kind in der jüngeren Vergangenheit im Rahmen eines Strafverfahrens einer individuellen Begutachtung unterzogen wurde oder ob der betreffende Fall ohne Anklage bearbeitet werden kann.
(41)
Die Fürsorgepflicht für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen sind, ist Grundlage einer fairen Justiz, insbesondere dann, wenn Kindern die Freiheit entzogen ist und sie sich daher in einer besonders schwachen Position befinden. Damit die persönliche Unversehrtheit der Kinder, denen die Freiheit entzogen ist, gewährleistet ist, sollten sie das Recht auf eine medizinische Untersuchung haben. Diese medizinische Untersuchung sollte von einem Arzt oder einer anderen qualifizierten Fachkraft durchgeführt werden, und zwar entweder — insbesondere dann, wenn bestimmte gesundheitliche Anzeichen Anlass zu einer solchen Untersuchung geben — auf Initiative der zuständigen Behörden oder auf Antrag des Kindes, des Trägers der elterlichen Verantwortung oder des Rechtsbeistands des Kindes. Die Mitgliedstaaten sollten praktische Regelungen für medizinische Untersuchungen, die gemäß dieser Richtlinie durchzuführen sind, sowie den Zugang von Kindern zu diesen Untersuchungen festlegen. Diese Regelungen könnten unter anderem Situationen zum Gegenstand haben, in denen zwei oder mehr Anträge auf medizinische Untersuchungen in Bezug auf das gleiche Kind in einem kurzen Zeitraum eingereicht werden.
(42)
Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, können den Inhalt von Befragungen, denen sie unterzogen werden, nicht immer verstehen. Um einen ausreichenden Schutz für diese Kinder sicherzustellen, sollte deren Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungsbehörden daher audiovisuell aufgezeichnet werden, wenn dies verhältnismäßig ist, wobei unter anderem zu berücksichtigen ist, ob ein Rechtsbeistand zugegen ist oder den Kindern die Freiheit entzogen ist, wobei das Kindeswohl immer eine vorrangige Erwägung sein sollte. Diese Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht, Befragungen von Kindern durch einen Richter oder ein Gericht audiovisuell aufzuzeichnen.
(43)
Ist eine audiovisuelle Aufzeichnung gemäß dieser Richtlinie vorzunehmen und ist diese aufgrund eines unüberwindbaren technischen Problems nicht möglich, so sollte es der Polizei oder anderen Strafverfolgungsbehörden möglich sein, das Kind ohne audiovisuelle Aufzeichnung zu befragen, wenn angemessene Anstrengungen unternommen wurden, um das technische Problem zu überwinden, es nicht angemessen ist, die Befragung zu verschieben, und es mit dem Kindeswohl vereinbar ist.
(44)
Unabhängig davon, ob die Befragungen der Kinder audiovisuell aufgezeichnet werden, sollten Kinder in jedem Fall in einer Weise befragt werden, die ihrem Alter und Reifegrad Rechnung trägt.
(45)
Kinder sind in einer besonders schutzbedürftigen Lage, wenn ihnen die Freiheit entzogen ist. Angesichts der möglichen Risiken für ihre körperliche, geistige und soziale Entwicklung und da der Freiheitsentzug möglicherweise zu Schwierigkeiten bei ihrer Wiedereingliederung in die Gesellschaft führt, sollten daher besondere Anstrengungen unternommen werden, den Freiheitsentzug bei Kindern, insbesondere die Inhaftierung von Kindern in jeder Phase des Verfahrens vor der endgültigen gerichtlichen Klärung der Frage, ob das betreffende Kind die Straftat begangen hat, zu vermeiden. Die Mitgliedstaaten können praktische Vorkehrungen, wie etwa Leitlinien oder Anleitungen für Polizeikräfte, zur Anwendung dieses Erfordernisses auf Situationen des Polizeigewahrsams treffen. Die Möglichkeiten für die Polizei oder andere Strafverfolgungsbehörden, ein Kind in Situationen festzunehmen, in denen dies dem ersten Anschein nach notwendig erscheint, wie auf frischer Tat oder unmittelbar nach dem Begehen einer Straftat, bleiben von diesem Erfordernis in jedem Falle unberührt.
(46)
Die zuständigen Behörden sollten immer Maßnahmen erwägen, die eine Alternative zur Haft darstellen (im Folgenden „alternative Maßnahmen” ), und solche Maßnahmen wenn möglich ergreifen. Diese alternativen Maßnahmen könnten Folgendes umfassen: ein an das Kind gerichtetes Verbot, sich an bestimmten Orten aufzuhalten, die Verpflichtung des Kindes, an einem bestimmten Ort zu wohnen, Einschränkungen im Hinblick auf den Kontakt zu bestimmten Personen, die Verpflichtung, sich bei den zuständigen Behörden zu melden, die Teilnahme an Erziehungsmaßnahmen oder, abhängig von der Einwilligung des Kindes, die Teilnahme an Heilbehandlungen oder Entziehungskuren.
(47)
Die Inhaftierung von Kindern sollte regelmäßig von einem Gericht, bei dem es sich auch um einen Einzelrichter handeln kann, überprüft werden. Es sollte möglich sein, die regelmäßige Überprüfung entweder vom Gericht von Amts wegen oder auf Antrag des Kindes, des Rechtsbeistands des Kindes oder einer Justizbehörde, die kein Gericht ist, insbesondere eines Staatsanwalts, durchzuführen. Mitgliedstaaten sollten diesbezüglich praktische Vorkehrungen vorsehen, auch in Bezug auf den Fall, dass eine regelmäßige Überprüfung bereits vom Gericht von Amts wegen durchgeführt wurde und das Kind oder der Rechtsbeistand des Kindes einen Antrag auf die Durchführung einer weiteren Überprüfung stellt.
(48)
Werden Kinder inhaftiert, sollten besondere Schutzmaßnahmen zu ihren Gunsten ergriffen werden. Insbesondere sollten sie im Einklang mit Artikel 37 Buchstabe c des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes von Erwachsenen getrennt untergebracht werden, es sei denn, dem Kindeswohl entspricht etwas anderes. Vollendet ein inhaftiertes Kind das 18. Lebensjahr, sollte es möglich sein, es weiterhin getrennt zu inhaftieren, sofern dies unter Berücksichtigung der Umstände der betroffenen Person gerechtfertigt ist. Bei inhaftierten Kindern ist angesichts der ihnen eigenen Schutzbedürftigkeit besonders darauf zu achten, wie sie behandelt werden. Kinder sollten im Einklang mit ihren Bedürfnissen Zugang zu Bildungseinrichtungen haben.
(49)
Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Person sind und die sich in Polizeigewahrsam befinden, von Erwachsenen getrennt untergebracht werden, es sei denn, dem Kindeswohl entspricht etwas anderes oder es ist in Ausnahmefällen in der Praxis nicht möglich, die Trennung vorzunehmen, sofern die Weise, in der Kinder zusammen mit Erwachsenen untergebracht sind, als mit dem Kindeswohl vereinbar angesehen wird. So sollte es beispielsweise in dünn besiedelten Gebieten ausnahmsweise möglich sein, Kinder mit Erwachsenen im Polizeigewahrsam unterzubringen, es sei denn, dies widerspräche dem Kindeswohl. In diesen Situationen sollte von den zuständigen Behörden besondere Aufmerksamkeit verlangt werden, um die körperliche Unversehrtheit und das Wohlbefinden des Kindes zu schützen.
(50)
Es sollte möglich sein, Kinder mit jungen Erwachsenen zu inhaftieren, es sei denn, dies widerspricht dem Kindeswohl. Es obliegt den Mitgliedstaaten festzulegen, welche Personen nach ihren nationalen Rechtsvorschriften und Verfahren als junge Erwachsene gelten. Den Mitgliedstaaten wird nahegelegt, festzulegen, dass Personen, die über 24 Jahre alt sind, nicht als junge Erwachsene eingestuft werden.
(51)
Werden Kinder inhaftiert, sollten die Mitgliedstaaten die in dieser Richtlinie vorgesehenen angemessenen Maßnahmen ergreifen. Diese Maßnahmen sollten unter anderem die wirksame und regelmäßige Ausübung ihres Rechts auf Familienleben gewährleisten. Kinder sollten das Recht haben, durch Besuche und Schriftwechsel regelmäßige Kontakte mit ihren Eltern, Familienangehörigen und Freunden aufrechtzuerhalten, es sei denn, im Interesse des Kindeswohls oder im Interesse der Justiz sind ausnahmsweise Einschränkungen erforderlich.
(52)
Die Mitgliedstaaten sollten auch geeignete Maßnahmen ergreifen, um die Achtung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit zu gewährleisten. In dieser Hinsicht sollten die Mitgliedstaaten insbesondere von einem Eingriff in die Religion oder die Weltanschauung des Kindes absehen. Mitgliedstaaten sind jedoch nicht verpflichtet, aktive Schritte zu unternehmen, um Kinder beim Gebet zu unterstützen.
(53)
Gegebenenfalls sollten die Mitgliedstaaten auch geeignete Maßnahmen in anderen Arten des Freiheitsentzugs ergreifen. Die ergriffenen Maßnahmen sollten verhältnismäßig und der Art des Freiheitsentzugs, wie Polizeigewahrsam oder Haft, und dessen Dauer angemessen sein.
(54)
Personen, die beruflich in direktem Kontakt zu Kindern stehen, sollten den besonderen Bedürfnissen von Kindern verschiedener Altersgruppen Rechnung tragen und sicherstellen, dass die Verfahrensabläufe kindgerecht sind. Zu diesen Zwecken sollten diese Personen im Umgang mit Kindern entsprechend geschult werden.
(55)
Kinder sollten entsprechend ihrem Alter, Reifegrad und ihrem Verständnis und unter Berücksichtigung besonderer Bedürfnisse einschließlich etwaiger Kommunikationsschwierigkeiten behandelt werden.
(56)
Die Privatsphäre der Kinder in Strafverfahren sollte unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Rechtstraditionen und -ordnungen der Mitgliedstaaten so gut wie möglich geschützt werden, um unter anderem ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu erleichtern. Die Mitgliedstaaten sollten vorsehen, dass Gerichtsverhandlungen, an denen Kinder beteiligt sind, grundsätzlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, oder Gerichten oder Richtern die Möglichkeit einräumen, diese Verhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchzuführen. Dies gilt unbeschadet der öffentlichen Bekanntgabe von Urteilen gemäß Artikel 6 EMRK.
(57)
Kinder sollten das Recht haben, sich von dem Träger der elterlichen Verantwortung bei Gerichtsverhandlungen, an denen sie beteiligt sind, begleiten zu lassen. Ist mehr als eine Person Träger der elterlichen Verantwortung für das Kind, sollte das Kind das Recht haben, von allen diesen Personen begleitet zu werden, es sei denn, dies ist in der Praxis trotz angemessener Anstrengungen der zuständigen Behörden nicht möglich. Die Mitgliedstaaten sollten praktische Vorkehrungen für die Wahrnehmung des Rechts der Kinder, sich bei Gerichtsverhandlungen, an denen sie beteiligt sind, von einem Träger der elterlichen Verantwortung begleiten zu lassen, sowie für die Bedingungen, unter denen eine begleitende Person vorübergehend von der Gerichtsverhandlung ausgeschlossen werden kann, vorsehen. Diese Vorkehrungen könnten unter anderem die Situation betreffen, in der der Träger der elterlichen Verantwortung vorübergehend dem Kind nicht zur Verfügung steht oder der Träger der elterlichen Verantwortung nicht von der Möglichkeit, das Kind zu begleiten, Gebrauch machen möchte, soweit das Kindeswohl berücksichtigt wird.
(58)
Unter bestimmten Umständen, die sich auch auf eine der Personen beziehen können, die Träger der elterlichen Verantwortung sind, sollte das Kind das Recht haben, sich bei Gerichtsverhandlungen von einem geeigneten Erwachsenen begleiten zu lassen, der nicht der Träger der elterlichen Verantwortung ist. Zu diesen Umständen gehört die Situation, in der der Träger der elterlichen Verantwortung, der das Kind begleitet, das Strafverfahren erheblich gefährden könnte, insbesondere wenn objektive und tatsächliche Umstände darauf hindeuten oder den Verdacht erzeugen, dass Beweise zerstört oder verändert oder Zeugen beeinflusst werden könnten, oder wenn ein Träger der elterlichen Verantwortung an der mutmaßlichen Straftat gemeinsam mit dem Kind beteiligt gewesen sein könnte.
(59)
Nach dieser Richtlinie sollten Kinder auch das Recht haben, in anderen Phasen des Verfahrens, in denen sie anwesend sind — etwa während polizeilicher Befragungen —, vom Träger der elterlichen Verantwortung begleitet zu werden.
(60)
Das Recht des Beschuldigten, persönlich zur Verhandlung zu erscheinen, ist Teil des Rechts auf ein faires Verfahren nach Artikel 47 der Charter und Artikel 6 EMRK in der Auslegung durch den Gerichtshof und durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die Mitgliedstaaten sollten geeignete Maßnahmen ergreifen, um die Anwesenheit der betroffenen Kinder während der Verhandlung zu fördern, etwa indem sie persönlich vorgeladen werden und einem Träger der elterlichen Verantwortung oder — wenn dies dem Kindeswohl abträglich wäre — einem anderen geeigneten Erwachsenen eine Abschrift der Vorladung übermittelt wird. Die Mitgliedstaaten sollten praktische Regelungen für die Anwesenheit eines Kindes bei der Gerichtsverhandlung festlegen. Diese Regelungen könnten unter anderem Bestimmungen darüber enthalten, unter welchen Bedingungen ein Kind vorübergehend von der Verhandlung ausgeschlossen werden kann.
(61)
Bestimmte in dieser Richtlinie vorgesehene Rechte sollten für Kinder, die gesuchte Personen sind, ab dem Zeitpunkt ihrer Festnahme im Vollstreckungsmitgliedstaat gelten.
(62)
Die Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls spielen bei der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten in Strafsachen eine zentrale Rolle. Die Einhaltung der im Rahmenbeschluss 2002/584/JI vorgesehenen Fristen ist für diese Zusammenarbeit von wesentlicher Bedeutung. Daher sollten diese Fristen eingehalten werden, Kinder, die gesuchte Personen sind, aber dennoch ihre Rechte nach dieser Richtlinie in einem Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls uneingeschränkt wahrnehmen können.
(63)
Die Mitgliedstaaten sollten geeignete Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass die Richter und Staatsanwälte, die Fälle mit Beteiligung von Kindern bearbeiten, besondere Sachkunde in diesem Bereich oder wirksamen Zugang zu spezifischen Schulungen insbesondere in Bezug auf die Rechte von Kindern, geeignete Befragungsmethoden, Kinderpsychologie und die Kommunikation in einer kindgerechten Sprache haben. Die Mitgliedstaaten sollten auch geeignete Maßnahmen ergreifen, um diese spezifischen Schulungen für Rechtsanwälte, die Strafverfahren mit Beteiligung von Kindern bearbeiten, zu fördern.
(64)
Damit die Wirksamkeit dieser Richtlinie überprüft und bewertet werden kann, müssen aus den verfügbaren Daten einschlägige Daten über die Umsetzung der in dieser Richtlinie festgelegten Rechte erhoben werden. Zu diesen Daten gehören die von Justiz- und Strafverfolgungsbehörden erfassten Daten und — soweit möglich — von Gesundheits- und Sozialfürsorgediensten zusammengestellte Verwaltungsdaten in Bezug auf die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte, insbesondere die Zahl der Kinder, die Zugang zu einem Rechtsbeistand erhielten, die Zahl der durchgeführten individuellen Begutachtungen, die Zahl der audiovisuell aufgezeichneten Befragungen und die Zahl der Kinder, denen die Freiheit entzogen worden ist.
(65)
Die Mitgliedstaaten sollten die in der Richtlinie festgelegten Rechte ohne Diskriminierungen insbesondere wegen der Rasse, der Hautfarbe, dem Geschlecht, der sexuellen Orientierung, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Staatsangehörigkeit, der ethnischen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, einer Behinderung oder der Geburt achten und garantieren.
(66)
Diese Richtlinie wahrt die in der Charta und der EMRK anerkannten Grundrechte und Grundsätze, darunter das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, das Recht auf Freiheit und Sicherheit sowie auf Achtung des Privat- und Familienlebens, das Recht auf Unversehrtheit, die Rechte des Kindes, das Recht auf Integration von Menschen mit Behinderung, das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren, die Unschuldsvermutung und die Verteidigungsrechte. Diese Richtlinie sollte unter Wahrung dieser Rechte und Grundsätze umgesetzt werden.
(67)
Mit dieser Richtlinie werden Mindestvorschriften festgelegt. Den Mitgliedstaaten sollte es möglich sein, die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte auszuweiten, um ein höheres Schutzniveau zu gewährleisten. Ein höheres Schutzniveau darf der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen, die mit diesen Mindestvorschriften erleichtert werden soll, nicht entgegenstehen. Das von den Mitgliedstaaten gewährte Schutzniveau sollte nie unter den Standards der Charta oder der EMRK in der Auslegung durch den Gerichtshof und durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte liegen.
(68)
Da das Ziel dieser Richtlinie, nämlich die Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften über Verfahrensgarantien für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in einem Strafverfahren sind, von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden kann, sondern vielmehr wegen seines Umfangs und seiner Wirkung auf Unionsebene besser zu verwirklichen ist, kann die Union im Einklang mit dem in Artikel 5 EUV verankerten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geht diese Richtlinie nicht über das für die Verwirklichung dieser Ziele erforderliche Maß hinaus.
(69)
Gemäß den Artikeln 1 und 2 des dem EUV und dem AEUV beigefügten Protokolls Nr. 21 über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und unbeschadet des Artikels 4 dieses Protokolls beteiligen sich diese Mitgliedstaaten nicht an der Annahme dieser Richtlinie und sind weder durch diese Richtlinie gebunden noch zu ihrer Anwendung verpflichtet.
(70)
Nach den Artikeln 1 und 2 des dem EUV und dem AEUV beigefügten Protokolls Nr. 22 über die Position Dänemarks beteiligt sich Dänemark nicht an der Annahme dieser Richtlinie und ist weder durch diese Richtlinie gebunden noch zu ihrer Anwendung verpflichtet.
(71)
Im Einklang mit der Gemeinsamen Politischen Erklärung der Mitgliedstaaten und der Kommission vom 28. September 2011 zu erläuternden Dokumenten(10) haben sich die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, in begründeten Fällen zusätzlich zur Mitteilung ihrer Umsetzungsmaßnahmen ein erläuterndes Dokument oder mehrere derartige Dokumente zu übermitteln, in dem bzw. denen der Zusammenhang zwischen den Bestandteilen einer Richtlinie und den entsprechenden Teilen nationaler Umsetzungsinstrumente erläutert wird. In Bezug auf diese Richtlinie hält der Gesetzgeber die Übermittlung derartiger Dokumente für gerechtfertigt —

HABEN FOLGENDE RICHTLINIE ERLASSEN:

Fußnote(n):

(1)

ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 63.

(2)

Standpunkt des Europäischen Parlaments vom 9. März 2016 (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht) und Beschluss des Rates vom 21. April 2016.

(3)

ABl. C 295 vom 4.12.2009, S. 1.

(4)

ABl. C 115 vom 4.5.2010, S. 1.

(5)

Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (ABl. L 280 vom 26.10.2010, S. 1).

(6)

Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. L 142 vom 1.6.2012, S. 1).

(7)

Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs (ABl. L 294 vom 6.11.2013, S. 1).

(8)

Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 zur Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. L 65, 11.3.2016, S. 1).

(9)

Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190 vom 18.7.2002, S. 1).

(10)

ABl. C 369 vom 17.12.2011, S. 14.

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