Präambel VO (EU) 2020/593

DIE EUROPÄISCHE KOMMISSION —

gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union,

gestützt auf die Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 922/72, (EWG) Nr. 234/79, (EG) Nr. 1037/2001 und (EG) Nr. 1234/2007 des Rates(1), insbesondere auf Artikel 222,

in Erwägung nachstehender Gründe:

(1)
Der Kartoffelsektor kann unterteilt werden in frische Kartoffeln, die hauptsächlich für den Eigenverbrauch gekauft werden, und Kartoffeln zur Verarbeitung, die in Futtermitteln und verarbeiteten Lebensmitteln wie tiefgefrorenen Kartoffeln (einschließlich tiefgefrorene Pommes frites), getrockneten Kartoffeln und zubereiteten oder haltbar gemachten Kartoffeln verwendet werden.
(2)
Die Kartoffelerzeugung in der Union beläuft sich auf etwa 52 Mio. Tonnen, von denen 19,5 Mio. Tonnen auf Kartoffeln zur Verarbeitung entfallen. Die wichtigsten Erzeuger von Kartoffeln zur Verarbeitung in der Union sind Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien und die Niederlande. Von der Erzeugungsmenge von Kartoffeln zur Verarbeitung dienen etwa 41 % der Erzeugung tiefgefrorener Pommes frites.
(3)
Die Union ist ein Nettoausführer von verarbeiteten Kartoffeln. In den vergangenen fünf Jahren wurden schätzungsweise durchschnittlich mindestens 4 Millionen Tonnen Kartoffeln zur Verarbeitung aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien und den Niederlanden in Form verarbeiteter Kartoffelerzeugnisse in Drittländer ausgeführt. Ausfuhren tiefgefrorener Kartoffeln und insbesondere tiefgefrorener Pommes frites sind unter normalen Marktbedingungen besonders umfangreich: 64 % der weltweit ausgeführten tiefgefrorenen Kartoffeln stammen aus der Union und der Ausfuhrwert tiefgefrorener Pommes frites aus der Union in Drittländer wurde für 2019 auf 1,85 Mrd. EUR geschätzt.
(4)
Die derzeitige COVID-19-Pandemie und die umfangreichen Beschränkungen der Bewegungsfreiheit in den Mitgliedstaaten führen für Erzeuger von Kartoffeln zur Verarbeitung zu wirtschaftlichen Störungen, die finanzielle Schwierigkeiten und Liquiditätsprobleme hervorrufen.
(5)
Durch die Ausbreitung der Krankheit und die ergriffenen Maßnahmen stehen weniger Arbeitskräfte zur Verfügung, wodurch es insbesondere auf den Stufen der Erzeugung, der Verarbeitung und der Verbringung von Kartoffeln zur Verarbeitung zu Engpässen kommt.
(6)
Zudem hat die verordnete Schließung von Restaurants und anderen Gastronomiebetrieben wie Kantinen in Schulen und an Arbeitsplätzen sowie die Absage von Sport- und Unterhaltungsveranstaltungen wie Kultur- und Open-Air-Festivals und Sportturnieren in der Union und in Drittländern das Gastgewerbe und die Gastronomie zum Stillstand gebracht, was zu erheblichen Veränderungen bei der Nachfrage nach Kartoffelerzeugnissen geführt hat. Da die Verbraucher momentan nicht mehr außer Haus essen und deutlich weniger Fast Food kaufen, hat sich die Nachfrage hin zu frischen Kartoffeln für die Zubereitung zu Hause verschoben. Obwohl sich der Verbrauch bestimmter verarbeiteter Kartoffelerzeugnisse wie Chips und Kartoffelbreipulver erhöht hat, kann dies nicht den Einbruch bei der Nachfrage im Gastgewerbe und in der Gastronomie ausgleichen.
(7)
Darüber hinaus kündigen Käufer in der Union und auf dem Weltmarkt Verträge und zögern den Abschluss neuer Verträge hinaus, da sie mit weiteren Preisrückgängen rechnen. Hinzu kommt, dass es bei den Ausfuhren logistische Probleme gibt, da der Ausbruch der COVID-19-Pandemie in China zu einer erheblichen Überlastung der Häfen in China und anderswo geführt hat. Es wird davon ausgegangen, dass es mindestens bis Juni 2020 vermehrt sogenannte Blank Sailings (Ausfall von Schiffsabfahrten) geben wird, die eine Verknappung der Containerkapazitäten insbesondere für frische und gefrorene Waren, einen erheblichen Anstieg der Frachtkosten und verspätete Lieferungen bei der Ausfuhr nach sich ziehen werden. Seit der vierten Woche im März 2020 habe die Unionserzeuger von Kartoffeln zur Verarbeitung einen Rückgang der Transaktionen zwischen den Mitgliedstaaten um 25 bis 47 % und bei Ausfuhren in Drittstaaten um 30 bis 65 % gemeldet.
(8)
Deshalb ist, obwohl zum jetzigen Zeitpunkt die Nachfrage nach frischen Kartoffeln gestiegen ist, ein erheblicher Rückgang bei der Nachfrage nach Kartoffeln zur Verarbeitung zu verzeichnen, was unmittelbare und ernsthafte Auswirkungen auf den Markt hat. Der Nachfrageeinbruch betrifft in erster Linie, aber nicht ausschließlich Kartoffeln zur Verarbeitung, die für tiefgefrorene Pommes frites, andere geschnittene Kartoffeln und vakuumverpackte Erzeugnisse verwendet werden, die normalerweise in Schnellrestaurants und Restaurants konsumiert werden. Aufgrund der unterschiedlichen Eigenschaften von frischen Kartoffeln und Kartoffeln zur Verarbeitung können Kartoffeln zur Verarbeitung nicht auf dem Markt für frische Kartoffeln verkauft werden. Da keine Transaktionen stattfinden, sind die Preise auf den Märkten für Futures demzufolge deutlich gesunken und waren Berichten zufolge im April 2020 im Vergleich zu den Angeboten im Januar 2020 um 90 % niedriger. Aufgrund der Unterbrechung der Transaktionen liegen in einigen Erzeugermitgliedstaaten wie Belgien und Frankreich keine Preisnotierungen für bestimmte Kartoffeln zur Verarbeitung mehr vor, was ein Zeichen für einen drastischen Rückgang des Umfangs und Wertes der Transaktionen ist. Aus anderen Mitgliedstaaten wie Deutschland oder den Niederlanden wurden Preiseinbrüche von 90 % für Kartoffeln zur Verarbeitung gemeldet.
(9)
Zudem befinden sich derzeit große Mengen an Kartoffeln zur Verarbeitung in Lagern. So werden sich am Ende der Kampagne 2020 im Juli 2020 schätzungsweise mindestens 2650000 Tonnen Kartoffeln zur Verarbeitung (im Wert von 400 Mio. EUR) der Kampagne 2019 noch in den Lagern befinden. Kartoffeln zur Verarbeitung, die im Oktober/November 2019 geerntet wurden und noch eingelagert sind, können aufgrund ihrer nachlassenden Qualität bald nicht mehr verwendet werden. Um Platz für die Kartoffeln zur Verarbeitung der Kampagne 2020 zu machen, werden die Erzeuger den verbleibenden Bestand, der nicht rechtzeitig verarbeitet werden kann, vernichten müssen. Da die Erzeuger die Transport- und Vernichtungskosten für die Vernichtung der Erzeugung tragen müssen, besteht das Risiko, dass sie als Ausweg die Kartoffeln zur Verarbeitung stattdessen auf den Feldern verteilen werden. Das Verteilen von Kartoffeln zur Verarbeitung auf den Feldern könnte langfristige Folgen für die Umwelt und den Pflanzenschutz haben, da diese Kartoffeln über den nachfolgenden Kulturen keimen und Krankheiten entwickeln könnten, die zu langfristigen Bodenbelastungen führen und neue Anpflanzungen dauerhaft gefährden könnten.
(10)
Aufgrund der genannten Umstände werden diese Ereignisse als Phase eines schweren Marktungleichgewichts eingestuft.
(11)
Damit in dieser Zeit eines schweren Marktungleichgewichts eine Lösung für Kartoffelerzeuger gefunden werden kann, sollten Vereinbarungen und Beschlüsse von landwirtschaftlichen Erzeugerbetrieben, Vereinigungen von landwirtschaftlichen Erzeugerbetrieben, Vereinigungen dieser Erzeugervereinigungen, anerkannten Erzeugerorganisationen, Vereinigungen von anerkannten Erzeugerorganisationen und anerkannten Branchenverbänden für Kartoffeln zur Verarbeitung zeitlich befristet für einen Zeitraum von sechs Monaten genehmigt werden. Dazu gehören: i) Marktrücknahmen und kostenlose Verteilung, ii) Umwandlung und Verarbeitung, iii) Lagerung, iv) gemeinsame Absatzförderungsmaßnahmen und v) vorläufige Planung der Produktion.
(12)
Solche Vereinbarungen und Beschlüsse für Kartoffeln zur Verarbeitung könnten Folgendes umfassen: i) Rücknahme von Kartoffeln vom Markt zur ordnungsgemäßen Zerstörung der Erzeugung oder zur kostenlosen Verteilung an Tafeln oder öffentliche Einrichtungen, ii) Verarbeitung der Kartoffeln für andere Zwecke wie Tierfutter oder Erzeugung zur Methanisierung, iii) Schaffung und Ausfindigmachen von Lagerkapazitäten und Aufbereitung der Kartoffeln für längere Lagerzeiträume, iv) Förderung des Konsums verarbeiteter Kartoffelerzeugnisse und v) Planung von Maßnahmen zur Reduzierung des Umfangs künftiger Anpflanzungen und Anpassung bestehender Verträge für Kartoffeln der Kampagne 2020.
(13)
Alle Vereinbarungen oder Beschlüsse für Kartoffeln zur Verarbeitung sollten zeitlich befristet für einen Zeitraum von sechs Monaten genehmigt werden. Da in diesem Zeitraum die Lagerbestände von Kartoffeln der Kampagne 2019 abgebaut und die Kartoffeln der Kampagne 2020 ab diesem Sommer geerntet werden, sollten die Maßnahmen in diesem Zeitraum den größten Nutzen bringen.
(14)
Gemäß Artikel 222 Absatz 1 Unterabsatz 1 der Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 wird eine Genehmigung erteilt, sofern dies nicht das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarkts unterminiert und diese Vereinbarungen und Beschlüsse strikt darauf abzielen, den Sektor zu stabilisieren. Durch diese besonderen Bedingungen sind Vereinbarungen und Beschlüsse ausgeschlossen, die direkt oder indirekt zur Aufteilung von Märkten, zu unterschiedlicher Behandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder zur Festsetzung von Preisen führen. Erfüllen die Vereinbarungen und Beschlüsse diese Bedingungen nicht oder nicht mehr, so findet Artikel 101 Absatz 1 AEUV auf diese Vereinbarungen und Beschlüsse Anwendung.
(15)
Da das schwere Marktungleichgewicht die gesamte Union betrifft, sollte die in dieser Verordnung vorgesehene Genehmigung für das Gebiet der Union gelten.
(16)
Damit die Mitgliedstaaten beurteilen können, ob die Vereinbarungen und Beschlüsse über Kartoffeln zur Verarbeitung das Funktionieren des Binnenmarktes nicht unterminieren und strikt darauf abzielen, den Kartoffelsektor zu stabilisieren, sollten die zuständigen Behörden — einschließlich der Wettbewerbsbehörden — des Mitgliedstaats, auf den der höchste Anteil der unter diese Vereinbarungen und Beschlüsse fallenden geschätzten Kartoffelerzeugungsmenge entfällt, Informationen über die geschlossenen Vereinbarungen und gefassten Beschlüsse sowie über die unter diese Vereinbarungen und Beschlüsse fallende Erzeugungsmenge und den Durchführungszeitraum erhalten.
(17)
Angesicht des schweren Marktungleichgewichts, der Notwendigkeit zum schnellen Abbau des verbleibenden Lagerbestands von Kartoffeln und dem näher rückenden Zeitpunkt für die Kartoffelernte, -lagerung und -verarbeitung, sollte diese Verordnung am Tag nach ihrer Veröffentlichung in Kraft treten.
(18)
Die in dieser Verordnung vorgesehenen Maßnahmen entsprechen der Stellungnahme des Ausschusses für die gemeinsame Organisation der Agrarmärkte —

HAT FOLGENDE VERORDNUNG ERLASSEN:

Fußnote(n):

(1)

ABl. L 347 vom 20.12.2013, S. 671.

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