Artikel 6 RL 2016/800/EU

Unterstützung durch einen Rechtsbeistand

(1) Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Person in einem Strafverfahren sind, haben das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gemäß der Richtlinie 2013/48/EU. Dieses Recht wird durch keine Bestimmung der vorliegenden Richtlinie, insbesondere nicht durch diesen Artikel, beeinträchtigt.

(2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Kinder gemäß diesem Artikel durch einen Rechtsbeistand unterstützt werden, damit sie die Verteidigungsrechte wirksam wahrnehmen können.

(3) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Kinder unverzüglich von einem Rechtsbeistand unterstützt werden, wenn sie davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie Verdächtige oder beschuldigte Person sind. In jedem Fall werden Kinder ab dem zuerst eintretenden der folgenden Zeitpunkte von einem Rechtsbeistand unterstützt:

a)
vor ihrer Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörden;
b)
ab der Durchführung von Ermittlungs- oder anderen Beweiserhebungshandlungen durch Ermittlungs- oder andere zuständige Behörden gemäß Absatz 4 Buchstabe c;
c)
unverzüglich nach dem Entzug der Freiheit;
d)
wenn sie vor ein in Strafsachen zuständiges Gericht geladen wurden, rechtzeitig bevor sie vor diesem Gericht erscheinen.

(4) Zur Unterstützung durch einen Rechtsbeistand gehört Folgendes:

a)
Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Kinder das Recht haben, mit dem Rechtsbeistand, der sie vertritt, unter vier Augen zusammenzutreffen und mit ihm zu kommunizieren, auch vor der Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörden.
b)
Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Kinder von einem Rechtsbeistand unterstützt werden, wenn sie befragt werden, und dass der Rechtsbeistand effektiv an der Befragung teilnehmen kann. Diese Teilnahme erfolgt gemäß den Verfahren des nationalen Rechts, sofern diese Verfahren die wirksame Ausübung oder den Wesensgehalt des betreffenden Rechts nicht beeinträchtigen. Ist ein Rechtsbeistand während der Befragung anwesend, wird die Tatsache, dass diese Teilnahme stattgefunden hat, unter Verwendung des Verfahrens für Aufzeichnungen nach dem nationalen Recht festgehalten.
c)
Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Kinder von einem Rechtsbeistand zumindest in den folgenden Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen unterstützt werden, falls diese im nationalen Recht vorgesehen sind und falls die Anwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person bei den betreffenden Handlungen vorgeschrieben oder zulässig ist:

i)
Identifizierungsgegenüberstellungen;
ii)
Vernehmungsgegenüberstellungen;
iii)
Tatortrekonstruktionen.

(5) Die Mitgliedstaaten beachten die Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Kindern und ihrem Rechtsbeistand bei der Wahrnehmung des in dieser Richtlinie vorgesehenen Rechts auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand. Eine solche Kommunikation umfasst auch Treffen, Schriftverkehr, Telefongespräche und sonstige nach nationalem Recht zulässige Kommunikationsformen.

(6) Die Mitgliedstaaten können — sofern dies mit dem Recht auf ein faires Verfahren vereinbar ist und das Kindeswohl immer eine vorrangige Erwägung ist — von den Verpflichtungen gemäß Absatz 3 abweichen, wenn die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand unter Berücksichtigung der Umstände des Falles nicht verhältnismäßig ist, wobei der Schwere der mutmaßlichen Straftat, der Komplexität des Falles und der Maßnahmen, die in Bezug auf eine solche Straftat ergriffen werden können, Rechnung zu tragen.

Die Mitgliedstaaten stellen in jedem Fall sicher, dass Kinder durch einen Rechtsbeistand unterstützt werden,

a)
wenn sie — in jeder Phase des Verfahrens im Anwendungsbereich dieser Richtlinie — einem zuständigen Gericht zur Entscheidung über eine Haft vorgeführt werden und
b)
wenn sie sich in Haft befinden.

Ferner stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Freiheitsentzug nicht als Strafe verhängt wird, wenn das Kind nicht derart durch einen Rechtsbeistand unterstützt worden ist, dass es die Verteidigungsrechte effektiv wahrnehmen konnte, und in jedem Fall während der Hauptverhandlungen.

(7) Hat das Kind gemäß diesem Artikel Unterstützung durch einen Rechtsbeistand zu erhalten, ist aber kein Rechtsbeistand anwesend, müssen die zuständigen Behörden die Befragung des Kindes oder andere in Absatz 4 Buchstabe c genannte Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen für eine angemessene Zeit verschieben, um das Eintreffen des Rechtsbeistands zu ermöglichen oder, wenn das Kind keinen Rechtsbeistand benannt hat, um einen Rechtsbeistand für das Kind zu bestellen.

(8) Unter außergewöhnlichen Umständen und nur im vorgerichtlichen Stadium können die Mitgliedstaaten vorübergehend von der Anwendung der nach Absatz 3 gewährten Rechte abweichen, wenn dies unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Falles durch einen der nachstehenden zwingenden Gründe gerechtfertigt ist:

a)
wenn dies zur Abwehr schwerwiegender, nachteiliger Auswirkungen auf das Leben, die Freiheit oder die körperliche Unversehrtheit einer Person dringend erforderlich ist;
b)
wenn ein sofortiges Handeln der Ermittlungsbehörden zwingend geboten ist, um eine erhebliche Gefährdung eines sich auf eine schwere Straftat beziehenden Strafverfahrens abzuwenden.

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die zuständigen Behörden bei der Anwendung dieses Absatzes das Kindeswohl berücksichtigen.

Eine Entscheidung, die Befragung ohne Rechtsbeistand gemäß diesem Absatz fortzusetzen, kann nur auf Einzelfallbasis entweder von einer Justizbehörde oder — unter der Bedingung, dass die Entscheidung einer richterlichen Kontrolle unterzogen werden kann — von einer anderen zuständigen Behörde getroffen werden.

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