ANHANG IV VO (EU) 2012/528

ALLGEMEINE BESTIMMUNGEN FÜR ABWEICHUNGEN VON DEN DATENANFORDERUNGEN

In diesem Anhang sind die Vorschriften festgelegt, die einzuhalten sind, wenn ein Antragsteller vorschlägt, von den Datenanforderungen in den Anhängen II und III nach Artikel 6 Absätze 2 und 3 oder nach Artikel 21 Absätze 1 und 2 abzuweichen, unbeschadet der in Anhang III dargelegten Sondervorschriften über die Anwendung der Berechnungsmethoden zur Einstufung von Gemischen, um Versuche an Wirbeltieren zu vermeiden. Solche Abweichungen von den Datenanforderungen muss er unter der entsprechenden Position des Antragsdossiers eindeutig begründen und dabei angeben, auf welche Bestimmungen des vorliegenden Anhangs er sich beruft.

1.
DIE DURCHFÜHRUNG EINER PRÜFUNG IST WISSENSCHAFTLICH NICHT NOTWENDIG

1.1.
Nutzung vorhandener Daten

1.1.1. Daten zu den physikalisch-chemischen Eigenschaften aus Prüfungen, die nicht nach den Grundsätzen der GLP oder den einschlägigen Prüfmethoden durchgeführt wurden. Solche Daten gelten unter folgenden Voraussetzungen als gleichwertig mit Daten, die nach den einschlägigen Prüfmethoden gewonnen wurden:
1.
Die Daten reichen aus, um den Stoff einzustufen, zu kennzeichnen und/oder sein Risiko zu bewerten;
2.
angemessene und aussagekräftige Dokumentation ist in ausreichendem Maße verfügbar, um die Gleichwertigkeit der Prüfmethode zu bewerten, und
3.
die Daten sind hinsichtlich des geprüften Endpunkts bewertbar, und bei der Prüfung wurde eine angemessene Qualitätssicherung durchgeführt.

1.1.2. Daten zu gesundheitlichen und umweltbezogenen Eigenschaften aus Prüfungen, die nicht nach den Grundsätzen der GLP oder nach den einschlägigen Prüfmethoden durchgeführt wurden. Solche Daten gelten unter folgenden Voraussetzungen als gleichwertig mit Daten, die nach den einschlägigen Prüfmethoden gewonnen wurden:
1.
Die Daten reichen aus, um den Stoff einzustufen, zu kennzeichnen und/oder sein Risiko zu bewerten;
2.
die Daten erfassen in ausreichendem Maße die wichtigsten Parameter/Endpunkte, die nach der einschlägigen Prüfmethode zu ermitteln sind;
3.
sofern die Expositionsdauer von Belang ist, ist sie mit der in den einschlägigen Prüfmethoden vorgesehenen Dauer vergleichbar oder länger als diese;
4.
die Versuche sind ausreichend und aussagekräftig dokumentiert, und
5.
bei den Versuchen wurde ein Qualitätssicherungssystem verwendet.

1.1.3.
Historische Humandaten

In der Regel dürfen gemäß Artikel 7 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 für die Zwecke dieser Verordnung keine Versuche am Menschen durchgeführt werden. Bestehende historische Humandaten wie z. B. epidemiologische Studien an exponierten Populationen, Daten über unbeabsichtigte und berufsbedingte Exposition und Daten aus Biomonitoring-Studien und aus gemäß international anerkannten Ethikcodes durchgeführten Studien mit freiwilligen Versuchspersonen sind jedoch heranzuziehen. Bei Menschen erhobene Daten dürfen nicht dazu genutzt werden, die Sicherheitsschwellen zu senken, die sich aus Versuchen oder Studien an Tieren ergeben. Die Aussagekraft dieser Daten für eine bestimmte Wirkung eines Stoffes auf die menschliche Gesundheit hängt u. a. von der Art der Untersuchung und der von ihr erfassten Parameter sowie von der Stärke und Spezifizität, d. h. von der Vorhersehbarkeit der Wirkung ab. Die Aussagekraft der Daten ist nach folgenden Kriterien zu bewerten:
1.
richtige Auswahl und Merkmale der Probanden und der Kontrollgruppe,
2.
adäquate Charakterisierung der Exposition,
3.
hinreichend lange Dauer des anschließenden Nachbeobachtungszeitraums zur Feststellung eventuell auftretender Krankheitsfälle,
4.
Validität der Methode zur Beobachtung der Wirkung,
5.
Berücksichtigung systematischer Fehler und verzerrender Faktoren, und
6.
verlässliche statistische Aussagekraft, um eine Schlussfolgerung zu begründen.
In jedem Fall ist eine ausreichende und aussagekräftige Dokumentation vorzulegen.

1.2.
Beweiskraft der Daten

Es ist möglich, dass Daten aus verschiedenen Quellen vorliegen, die in ihrer Gesamtheit hinreichend beweiskräftig sind und die Annahme/den Schluss zulassen, dass ein Stoff eine bestimmte gefährliche Eigenschaft besitzt oder nicht besitzt, während die Daten aus irgendeiner einzelnen dieser Quellen eine solche Aussage nicht erlauben. Es ist möglich, dass hinreichend beweiskräftige Daten aufgrund positiver Ergebnisse aus neuartigen, noch nicht bei den einschlägigen Prüfmethoden aufgeführten Prüfungen oder aus einer internationalen von der Kommission als gleichwertig anerkannten Prüfmethode vorliegen, die den Schluss zulassen, dass ein Stoff eine bestimmte gefährliche Eigenschaft besitzt. Sollten neuartige Prüfungen von der Kommission genehmigt, jedoch noch nicht veröffentlicht worden sein, können deren Ergebnisse selbst dann berücksichtigt werden, wenn die Prüfung den Schluss zulässt, dass ein Stoff eine bestimmte gefährliche Eigenschaft nicht besitzt. Gibt es nach Prüfung aller verfügbaren Daten hinreichende Beweise für das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer bestimmten gefährlichen Eigenschaft, gilt Folgendes:

Weitere Versuche an Wirbeltieren zur Feststellung dieser Eigenschaft werden nicht durchgeführt.

Auf weitere nicht an Wirbeltieren vorgenommene Versuche kann verzichtet werden.

In jedem Fall ist eine ausreichende und aussagekräftige Dokumentation vorzulegen.

1.3.
Quantitative oder qualitative Struktur-Wirkungs-Beziehung ((Q)SAR)

Ergebnisse der Anwendung valider Modelle der quantitativen oder qualitativen Struktur-Wirkungs-Beziehung ((Q)SAR) können auf das Vorhandensein aber nicht auf das Fehlen einer bestimmten gefährlichen Eigenschaft hinweisen. Solche Ergebnisse können unter folgenden Voraussetzungen Prüfungen ersetzen:

Die Ergebnisse wurden mit einem wissenschaftlich validen (Q)SAR-Modell erzielt;

der Stoff fällt in den Anwendungsbereich des (Q)SAR-Modells;

die Ergebnisse reichen aus, um den Stoff einzustufen, zu kennzeichnen und/oder sein Risiko zu bewerten, und

die angewandte Methode ist ausreichend und aussagekräftig dokumentiert.

Die Agentur entwickelt und verbreitet in Zusammenarbeit mit der Kommission, den Mitgliedstaaten und den Interessengruppen Leitlinien für die Verwendung von (Q)SAR.

1.4.
In-vitro-Prüfungen

Ergebnisse geeigneter In-vitro-Prüfungen können auf das Vorhandensein einer bestimmten gefährlichen Eigenschaft schließen lassen oder können für das Verständnis der Abläufe und damit für die Bewertung wichtig sein. „Geeignet” bedeutet hier ausreichend entwickelt nach international anerkannten Kriterien für die Entwicklung von Prüfmethoden. Bei positiven Ergebnissen solcher In-vitro-Prüfungen ist die gefährliche Eigenschaft durch geeignete In-vivo-Prüfungen zu bestätigen. Auf eine solche Bestätigung kann jedoch unter folgenden Voraussetzungen verzichtet werden:
1.
Die Ergebnisse wurden mit einer In-vitro-Prüfmethode erzielt, deren Validität nach international anerkannten Grundsätzen in einer Validierungsstudie nachgewiesen wurde;
2.
die Ergebnisse reichen aus, um den Stoff einzustufen, zu kennzeichnen und/oder sein Risiko zu bewerten, und
3.
die angewandte Methode ist ausreichend und aussagekräftig dokumentiert.

Bei negativen Ergebnissen dieser Prüfungen finden diese Ausnahmen keine Anwendung. Im Einzelfall kann ein Bestätigungstest beantragt werden.

1.5.
Stoffgruppen- und Analogiekonzept

Stoffe, deren physikalisch-chemische, toxikologische und ökotoxikologische Eigenschaften infolge struktureller Ähnlichkeit ähnlich sind oder einem bestimmten Muster folgen, können als Stoffgruppe betrachtet werden. Voraussetzung dafür ist, dass für einen Stoff die physikalisch-chemischen Eigenschaften, die Wirkung auf die Gesundheit von Mensch und Tier und die Umwelt oder der Verbleib in der Umwelt durch Interpolation aus den Daten für Bezugsstoffe abgeleitet werden können, die derselben Stoffgruppe angehören (Analogiekonzept). Es ist dann nicht notwendig, jeden Stoff für jeden Endpunkt zu prüfen. Die Ähnlichkeiten können auf Folgendem beruhen:
1.
einer gemeinsamen funktionellen Gruppe, die auf das Vorhandensein gefährlicher Eigenschaften schließen lässt;
2.
gemeinsamen Ausgangsstoffen und/oder strukturell ähnlichen Produkten des physikalischen oder biologischen Abbaus, die auf das Vorhandensein gefährlicher Eigenschaften schließen lassen, oder
3.
einem festen Muster, nach dem sich die Wirkungsstärke der Eigenschaften über die Stoffgruppe hinweg ändert.
Wird das Konzept der Stoffgruppe angewandt, so sind die Stoffe auf dieser Grundlage einzustufen und zu kennzeichnen. In jedem Fall sollten die Ergebnisse folgende Kriterien erfüllen:

Die Ergebnisse reichen aus, um den Stoff einzustufen, zu kennzeichnen und/oder sein Risiko zu bewerten;

die Ergebnisse erfassen in ausreichendem Maße die wichtigsten Parameter, die in der einschlägigen Prüfmethode aufgeführt sind, und

sofern die Expositionsdauer von Belang ist, ist sie mit der in der einschlägigen Prüfmethode vorgesehenen Dauer vergleichbar oder länger als diese.

In jedem Fall ist eine ausreichende und aussagekräftige Dokumentation über die angewandte Methode vorzulegen. Die Agentur entwickelt und verbreitet in Zusammenarbeit mit der Kommission, den Mitgliedstaaten und den Interessengruppen Leitlinien zu den technisch und wissenschaftlich gerechtfertigten Methoden für die Gruppierung von Stoffen.

2.
DIE DURCHFÜHRUNG EINER PRÜFUNG IST TECHNISCH NICHT MÖGLICH

Auf die Prüfung für einen bestimmten Endpunkt kann verzichtet werden, wenn sie wegen der Stoffeigenschaften technisch unmöglich ist, so beispielsweise, wenn der Stoff leicht flüchtig, hochreaktiv oder instabil ist, wenn bei seinem Kontakt mit Wasser Brand- oder Explosionsgefahr besteht oder wenn die zur Prüfung erforderliche radioaktive Markierung nicht möglich ist. Maßgebend sind stets die Angaben in den einschlägigen Prüfmethoden, insbesondere die Angaben zu den technischen Grenzen der Prüfmethoden.

3.
PRODUKTSPEZIFISCHE EXPOSITIONSABHÄNGIGE PRÜFUNG

3.1. Auf Prüfungen mit bestimmten Endpunkten nach Anhang II bzw. III Abschnitte 8 und 9 kann unbeschadet des Artikels 6 Absatz 2 aufgrund von Expositionserwägungen verzichtet werden, sofern Expositionsdaten im Einklang mit Anhang II oder Anhang III vorliegen. In diesem Fall müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:

Es wird eine Expositionsbewertung durchgeführt, die die primäre und die sekundäre Exposition in einer realistischen Worst-case-Situation für alle Verwendungszwecke des Biozidprodukts erfasst, das den Wirkstoff enthält, für den eine Genehmigung beantragt wird, oder des Biozidprodukts, dessen Zulassung beantragt wird.

Wird zu einem späteren Zeitpunkt während des Produktzulassungsverfahrens ein neues Expositionsszenario eingeführt, so sind zusätzliche Daten vorzulegen, um zu bewerten, ob die Datenanpassung noch stets gerechtfertigt ist.

Die Begründung, weshalb das Ergebnis der Expositionsbewertung einen Verzicht auf die Datenanforderungen rechtfertigt, ist klar und transparent darzulegen.

Für Effekte, für die keine Schwellenwerte festgelegt sind, kann jedoch nicht auf eine Prüfung verzichtet werden. Daher sind bestimmte Kerndaten, z. B. die Genotoxizitätsprüfung, stets vorgeschrieben. Die Agentur entwickelt und verbreitet in Zusammenarbeit mit der Kommission, den Mitgliedstaaten und den Interessengruppen gegebenenfalls Leitlinien für die nach Artikel 6 Absatz 4 und Artikel 21 Absatz 3 festgelegten Kriterien.

3.2. In jedem Fall sind eine angemessene Begründung und Dokumentation vorzulegen. Die Begründung beruht auf einer Expositionsbewertung nach den einschlägigen technischen Hinweisen, falls vorhanden.

© Europäische Union 1998-2021

Tipp: Verwenden Sie die Pfeiltasten der Tastatur zur Navigation zwischen Normen.