Präambel RL 2020/285/EU

DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION —

gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 113,

auf Vorschlag der Europäischen Kommission,

nach Zuleitung des Entwurfs des Gesetzgebungsakts an die nationalen Parlamente,

nach Stellungnahme des Europäischen Parlaments(1),

nach Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses(2),

gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren,

in Erwägung nachstehender Gründe:

(1)
Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates(3) erlaubt den Mitgliedstaaten, ihre Sonderregelungen für Kleinunternehmen gemäß gemeinsamen Bestimmungen und im Hinblick auf eine weiter gehende Harmonisierung beizubehalten. Diese Bestimmungen sind jedoch veraltet und verringern den Befolgungsaufwand für Kleinunternehmen nicht, da sie für ein gemeinsames Mehrwertsteuersystem konzipiert waren, das auf der Besteuerung im Ursprungsmitgliedstaat beruhte.
(2)
In ihrem Mehrwertsteuer-Aktionsplan kündigte die Kommission ein umfassendes Paket von Vereinfachungen für Kleinunternehmen an, um deren Verwaltungsaufwand zu verringern und zur Schaffung eines steuerlichen Umfelds beizutragen, das ihr Wachstum und die Entwicklung des grenzüberschreitenden Handels begünstigt. Dieses Vereinfachungspaket beinhaltet eine Überprüfung der Sonderregelung für Kleinunternehmen gemäß der Mitteilung über das Follow-up zum Mehrwertsteuer-Aktionsplan. Die Überprüfung der Sonderregelung für Kleinunternehmen stellt daher ein wichtiges Element des im Mehrwertsteuer-Aktionsplan dargelegten Reformpakets dar.
(3)
Um das Problem des unverhältnismäßigen Befolgungsaufwands für von der Steuer befreite Kleinunternehmen zu lösen, sollten bestimmte Vereinfachungsmaßnahmen auch für sie verfügbar sein.
(4)
Gemäß der Sonderregelung für Kleinunternehmen können derzeit nur Unternehmen, die in dem Mitgliedstaat ansässig sind, in dem die Mehrwertsteuer geschuldet wird, von der Steuer befreit werden. Dies hat im Binnenmarkt für nicht in diesem Mitgliedstaat ansässige Unternehmen negative Auswirkungen auf die Wettbewerbsbedingungen. Um hier Abhilfe zu schaffen und weitere Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden, sollten Kleinunternehmen, die in anderen Mitgliedstaaten ansässig sind als in dem Mitgliedstaat, in dem die Mehrwertsteuer geschuldet wird, die Steuerbefreiung ebenfalls in Anspruch nehmen dürfen.
(5)
Unterliegt ein Steuerpflichtiger in seinem Mitgliedstaat der Ansässigkeit der normalen Mehrwertsteuerregelung, nimmt aber die Mehrwertsteuerbefreiung für Kleinunternehmen in einem anderen Mitgliedstaat in Anspruch, so sollte der Vorsteuerabzug eine Verbindung zu den besteuerten Lieferungen von Gegenständen und/oder Dienstleistungen des Steuerpflichtigen aufweisen. Bezieht ein solcher Steuerpflichtiger Eingangsumsätze im Mitgliedstaat seiner Ansässigkeit, die in Verbindung mit von der Steuer befreiten Lieferungen von Gegenständen und/oder Dienstleistungen in anderen Mitgliedstaaten stehen, so sollte kein Vorsteuerabzug möglich sein.
(6)
Kleinunternehmen können die Steuerbefreiung nur dann in Anspruch nehmen, wenn ihr Jahresumsatz unter dem Schwellenwert liegt, der vom Mitgliedstaat, in dem die Mehrwertsteuer geschuldet wird, angewandt wird. Bei der Festlegung der Schwellenwerte müssen sich die Mitgliedstaaten an die in der Richtlinie 2006/112/EG festgelegten Bestimmungen über Schwellenwerte halten. Diese Bestimmungen, die zumeist im Jahr 1977 festgelegt wurden, sind überholt.
(7)
Zu Vereinfachungszwecken wurde einigen Mitgliedstaaten gestattet, vorübergehend einen höheren als den in der Richtlinie 2006/112/EG festgelegten Schwellenwert anzuwenden. Da es nicht sinnvoll ist, allgemeine Bestimmungen weiterhin durch Ausnahmemaßnahmen zu ändern, sollten die Bestimmungen für Schwellenwerte angepasst werden.
(8)
Die Mitgliedstaaten sollten ihren nationalen Schwellenwert für die Steuerbefreiung — unter Einhaltung des in der vorliegenden Richtlinie festgelegten oberen Schwellenwerts — so festlegen können, wie es ihren wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen am besten entspricht. In diesem Zusammenhang sollte präzisiert werden, dass die Anwendung unterschiedlicher Schwellenwerte für verschiedene Wirtschaftsbereiche durch die Mitgliedstaaten auf objektiven Kriterien basieren muss. Kommt ein Steuerpflichtiger für die Inanspruchnahme mehrerer sektorspezifischer Schwellenwerte infrage, so sollten die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass er nur einen dieser Schwellenwerte in Anspruch nehmen kann. Außerdem sollten sie sicherstellen, dass bei ihren Schwellenwerten nicht zwischen ansässigen und nicht ansässigen Steuerpflichtigen unterschieden wird.
(9)
Der Schwellenwert für den Jahresumsatz, der die Grundlage für die im Rahmen der Sonderregelung nach dieser Richtlinie festgelegte Steuerbefreiung darstellt, beruht lediglich auf dem Gesamtbetrag der Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen eines Kleinunternehmens in dem Mitgliedstaat, in dem die Steuerbefreiung gewährt wird. Wettbewerbsverzerrungen könnten auftreten, wenn ein Unternehmen, das nicht in diesem Mitgliedstaat ansässig ist, unabhängig von den Umsätzen, die es in anderen Mitgliedstaaten bewirkt, für eine solche Steuerbefreiung infrage käme. Um solche Wettbewerbsverzerrungen zu begrenzen und die Steuereinnahmen zu schützen, sollten nur diejenigen Unternehmen, deren Jahresumsatz in der Union unter einem bestimmten Schwellenwert liegt, für eine Steuerbefreiung in einem Mitgliedstaat, in dem sie nicht ansässig sind, infrage kommen. Unternehmen, deren Umsatz in dem Mitgliedstaat, in dem sie ansässig sind, unter dem nationalen Schwellenwert liegt, sollten in diesem Mitgliedstaat — unabhängig von dem in anderen Mitgliedstaaten bewirkten Umsatz — weiterhin von der Steuer befreite Lieferungen von Gegenständen und/oder Dienstleistungen erbringen dürfen, auch wenn ihr Gesamtumsatz den unionsweiten Schwellenwert übersteigt.
(10)
Damit eine wirksame Kontrolle der Anwendung der Steuerbefreiung ermöglicht wird und der Zugang der Mitgliedstaaten zu den erforderlichen Informationen sichergestellt ist, sollten Steuerpflichtige, die die Steuerbefreiung in einem Mitgliedstaat, in dem sie nicht ansässig sind, in Anspruch nehmen wollen, verpflichtet sein, den Mitgliedstaat, in dem sie ansässig sind, vorab zu benachrichtigen. Aus Gründen der Vereinfachung und der Senkung der Befolgungskosten sollten solche Steuerpflichtige nur im Mitgliedstaat der Ansässigkeit eine individuelle Nummer erhalten. Diese Nummer kann, muss aber nicht die individuelle Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer sein.
(11)
Um das reibungslose Funktionieren und die Überwachung der Steuerbefreiung sowie die zeitgerechte Übermittlung von Informationen sicherzustellen, sollten die Mitteilungspflichten für Steuerpflichtige, die in einem Mitgliedstaat, in dem sie nicht ansässig sind, eine Steuerbefreiung in Anspruch nehmen, klar festgelegt werden. Dadurch sollten Steuerpflichtige, die die Vorschriften befolgen, von derartigen Pflichten und von der Registrierungspflicht in anderen Mitgliedstaaten als dem Mitgliedstaat der Ansässigkeit befreit werden können. Die Mitgliedstaaten sollten jedoch verlangen können, dass in dem Fall, dass nicht ansässige Steuerpflichtige den speziell für sie geltenden Mitteilungspflichten nicht nachkommen, die in den jeweiligen nationalen Mehrwertsteuergesetzen festgelegten allgemeinen Mehrwertsteuerregistrierungs- und Mitteilungspflichten nachkommen müssen.
(12)
Um eine uneinheitliche Berechnung der in dem Mitgliedstaat erzielten Jahresumsätze, die als Bezugsgrundlage für die Anwendung der Steuerbefreiung herangezogen werden, und des Jahresumsatzes in der Union zu vermeiden, sollten die zu berücksichtigenden Umsatzbestandteile festgelegt werden.
(13)
Um einer Umgehung der Vorschriften in Bezug auf die Steuerbefreiung für Kleinunternehmen vorzubeugen und den Zweck dieser Befreiung zu wahren, sollte ein Steuerpflichtiger unabhängig davon, ob er in dem Mitgliedstaat, der die Steuerbefreiung gewährt, ansässig ist oder nicht, die Steuerbefreiung nicht in Anspruch nehmen dürfen, wenn der in diesem Mitgliedstaat festgelegte Schwellenwert im vorangegangenen Kalenderjahr überschritten wurde. Aus denselben Gründen sollte ein Steuerpflichtiger, der nicht in dem Mitgliedstaat, der die Steuerbefreiung gewährt, ansässig ist, die Steuerbefreiung nicht in Anspruch nehmen dürfen, wenn der Schwellenwert für den Jahresumsatz in der Union im vorangegangenen Kalenderjahr überschritten wurde.
(14)
Um einen schrittweisen Übergang der Kleinunternehmen von der Steuerbefreiung zur Besteuerung sicherzustellen, sollten Steuerpflichtige die Steuerbefreiung für Kleinunternehmen weiterhin für einen begrenzten Zeitraum in Anspruch nehmen dürfen, wenn ihr Umsatz den nationalen Schwellenwert nicht um mehr als einen bestimmten Prozentsatz dieses Schwellenwerts überschreitet. Da die angewandten Schwellenwerte von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich sein können, sollten die Mitgliedstaaten einen der beiden vorgeschlagenen Prozentsätze wählen können, solange die Anwendung des Prozentsatzes nicht dazu führt, dass der Umsatz des von der Steuer befreiten Steuerpflichtigen einen bestimmten festgelegten Betrag überschreitet. Wird der Schwellenwert für den Jahresumsatz in der Union während eines Kalenderjahres überschritten, so sollte die Steuerbefreiung ab diesem Zeitpunkt nicht mehr gelten, da sonst die Funktion des Schwellenwerts als Einnahmenschutz nicht mehr erfüllt wäre.
(15)
Findet eine Steuerbefreiung Anwendung, so sollten Kleinunternehmen, die die Steuerbefreiung im Mitgliedstaat der Ansässigkeit in Anspruch nehmen, innerhalb eines bestimmten Zeitraums zumindest Zugang zu einem Mehrwertsteuerregistrierungsverfahren haben. Es sollte den Mitgliedstaaten möglich sein, diesen Zeitraum in bestimmten Fällen zu verlängern, in denen gründliche Kontrollen zur Verhinderung von Steuerhinterziehung oder Steuervermeidung erforderlich sind.
(16)
Kleinunternehmen, die die Steuerbefreiung im Mitgliedstaat der Ansässigkeit in Anspruch nehmen, sollten zumindest Zugang zu vereinfachten Mitteilungspflichten haben.
(17)
Neben der Gewährung einer Mehrwertsteuerbefreiung sehen die Sonderregelungen auch die Möglichkeit degressiver Steuerermäßigungen vor. Degressive Steuerermäßigungen erhöhen die Komplexität und tragen wenig zur Verringerung des Befolgungsaufwands von Kleinunternehmen bei. Sie sollten daher abgeschafft werden.
(18)
Die Mitgliedstaaten sollten Steuerpflichtigen das Recht einräumen können, zwischen der allgemeinen Mehrwertsteuerregelung und der Sonderregelung für Kleinunternehmen zu wählen. Wenn ein Steuerpflichtiger dieses Recht ausübt, sollte es den Mitgliedstaaten überlassen werden, die detaillierten Vorschriften und Bedingungen für die Ausübung dieses Rechts festzulegen.
(19)
Diese Richtlinie sollte keine neuen Registrierungs- oder Mitteilungspflichten für Kleinunternehmen enthalten, die nur in dem Mitgliedstaat der Ansässigkeit eine Steuerbefreiung in Anspruch nehmen.
(20)
Da das Ziel der vorliegenden Richtlinie, nämlich den Befolgungsaufwand für Kleinunternehmen zu verringern, von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden kann, sondern vielmehr auf Unionsebene besser zu verwirklichen ist, kann die Union im Einklang mit dem in Artikel 5 des Vertrags über die Europäische Union verankerten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geht diese Richtlinie nicht über das für die Verwirklichung dieses Zieles erforderliche Maß hinaus.
(21)
Gemäß der Gemeinsamen Politischen Erklärung der Mitgliedstaaten und der Kommission zu erläuternden Dokumenten vom 28. September 2011(4) haben sich die Mitgliedstaaten verpflichtet, in begründeten Fällen zusätzlich zur Mitteilung ihrer Umsetzungsmaßnahmen ein oder mehrere Dokumente zu übermitteln, in denen der Zusammenhang zwischen den Bestandteilen einer Richtlinie und den entsprechenden Teilen innerstaatlicher Umsetzungsinstrumente erläutert wird. In Bezug auf diese Richtlinie hält der Gesetzgeber die Übermittlung derartiger Dokumente für gerechtfertigt.
(22)
Um sicherzustellen, dass die in der Richtlinie 2006/112/EG in Bezug auf die Sonderregelung für Kleinunternehmen festgelegten Vereinfachungsmaßnahmen gebührend überwacht werden können, ist es erforderlich, die Verordnung (EU) Nr. 904/2010 des Rates(5) zu ändern, damit die einschlägigen zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten automatisierten Zugang zu den Daten haben, die über Steuerpflichtige, die Mehrwertsteuerbefreiungen für Kleinunternehmen in Anspruch nehmen, erhoben werden.
(23)
Damit Kleinunternehmen leichten Zugang zu den Bestimmungen haben, die in den einzelnen Mitgliedstaaten in Bezug auf die Sonderregelung für Kleinunternehmen gelten, sollten diese Bestimmungen auf der Website der Kommission veröffentlicht werden.
(24)
Der Ausschuss der Regionen hat am 10. Oktober 2018 Stellung genommen(6).
(25)
Die Richtlinie 2006/112/EG und die Verordnung (EU) Nr. 904/2010 sollten daher entsprechend geändert werden —

HAT FOLGENDE RICHTLINIE ERLASSEN:

Fußnote(n):

(1)

Stellungnahme vom 11. September 2018 und Stellungnahme vom 15. Januar 2020 (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

(2)

ABl. C 283 vom 10.8.2018, S. 35.

(3)

Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347 vom 11.12.2006, S. 1).

(4)

ABl. C 369 vom 17.12.2011, S. 14.

(5)

Verordnung (EU) Nr. 904/2010 des Rates vom 7. Oktober 2010 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer (ABl. L 268 vom 12.10.2010, S. 1).

(6)

ABl. C 461 vom 21.12.2018, S. 43.

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