Artikel 108 VO (EU, Euratom ) 2012/966
Das Früherkennungs- und Ausschlusssystem
(1) Die innerhalb des Früherkennungs- und Ausschlusssystems nach Artikel 105a dieser Verordnung ausgetauschten Informationen werden in einer von der Kommission eingerichteten Datenbank zentralisiert und in voller Übereinstimmung mit dem Recht auf Privatsphäre und den in Verordnung (EG) Nr. 45/2001 festgelegten anderen Rechten verwaltet (im Folgenden „Datenbank” ).
Die Eingabe der Informationen in die Datenbank erfolgt durch den jeweiligen öffentlichen Auftraggeber im Rahmen seiner laufenden Vergabeverfahren und bestehenden Verträge nach Unterrichtung des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers. Eine solche Unterrichtung kann ausnahmsweise aufgeschoben werden, sofern aus zwingenden schutzwürdigen Gründen die Vertraulichkeit einer Untersuchung oder eines einzelstaatlichen Gerichtsverfahrens gewahrt werden muss, und zwar solange diese zwingenden schutzwürdigen Gründe zur Wahrung der Vertraulichkeit bestehen.
Gemäß der Verordnung (EG) Nr. 45/2001 hat jeder Wirtschaftsteilnehmer, der unter das Früherkennungs- und Ausschlusssystem fällt, das Recht auf Auskunft über die in der Datenbank gespeicherten Daten, wofür ein Antrag an die Kommission zu stellen ist.
Die Informationen in die Datenbank werden gegebenenfalls im Zuge von Berichtigungen, Löschungen oder Änderungen der Daten aktualisiert. Sie werden nur im Einklang mit Artikel 106 Absätze 16 und 17 dieser Verordnung veröffentlicht.
(2) Die in Artikel 105a Absatz 1 Buchstabe a dieser Verordnung genannte frühzeitige Erkennung von Risiken, die die finanziellen Interessen der Union bedrohen, stützt sich auf die Übermittlung von Informationen an die Kommission durch eine der folgenden Stellen:
- a)
- durch OLAF gemäß der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 883/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates(1), sofern eine laufende Untersuchung durch OLAF es geraten erscheinen lässt, Sicherungsmaßnahmen zum Schutz der finanziellen Interessen der Union zu ergreifen, unter gebührender Berücksichtigung der Achtung der Verfahrens- und Grundrechte sowie des Schutzes von Informanten;
- b)
- durch einen Anweisungsbefugten der Kommission, eines von der Kommission eingerichteten Europäischen Amts oder einer Exekutivagentur, wenn es sich mutmaßlich um eine schwere Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit, eine Unregelmäßigkeit, Betrug, Korruption oder eine schwerwiegende Vertragsverletzung handelt;
- c)
- durch ein Organ, ein Europäisches Amt oder eine Agentur, die nicht in Buchstabe b dieses Absatzes genannt ist, oder eine Einrichtung, wenn es sich mutmaßlich um eine schwere Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit, eine Unregelmäßigkeit, Betrug, Korruption oder eine schwerwiegende Vertragsverletzung handelt;
- d)
- durch Einrichtungen, die nach Artikel 59 dieser Verordnung den Haushaltsplan ausführen in aufgedeckten Fällen von Betrug und/oder anderen Unregelmäßigkeiten, wenn dies nach sektorspezifischen Vorschriften erforderlich ist;
- e)
- durch Einrichtungen, die nach Artikel 60 dieser Verordnung den Haushaltsplan ausführen in aufgedeckten Fällen von Betrug und/oder anderen Unregelmäßigkeiten.
(3) Abgesehen von den Fällen, in denen die Informationen nach sektorspezifischen Vorschriften vorzulegen sind, müssen die nach Absatz 2 dieses Artikels zu übermittelnden Informationen Folgendes umfassen:
- a)
- die Identifikation des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers;
- b)
- eine Übersicht über die erkannten Risiken oder die betreffenden Sachverhalte;
- c)
- Informationen, die für den Anweisungsbefugten bei der Durchführung der Überprüfung nach Absatz 4 des vorliegenden Artikels oder beim Treffen einer Ausschlussentscheidung nach Artikel 106 Absätze 1 oder 2 oder einer Entscheidung zur Verhängung einer finanziellen Sanktion nach Artikel 106 Absatz 13 nützlich sein könnten;
- d)
- gegebenenfalls Sondermaßnahmen zur Sicherstellung einer vertraulichen Behandlung der übermittelten Informationen, einschließlich Maßnahmen zur Beweissicherung für den Schutz der Untersuchung oder des einzelstaatlichen Gerichtsverfahrens.
(4) Die Kommission übermittelt die in Absatz 3 dieses Artikels genannten Informationen unverzüglich an ihre Anweisungsbefugten und an diejenigen ihrer Exekutivagenturen sowie an alle anderen Organe, Einrichtungen, Europäischen Ämter und Agenturen, damit diese Stellen die notwendige Überprüfung hinsichtlich ihrer laufenden Vergabeverfahren und bestehenden Verträge durchführen können.
Bei der Durchführung dieser Überprüfung übt der Anweisungsbefugte seine Befugnisse gemäß Artikel 66 aus und geht nicht über das hinaus, was in den Bedingungen der Auftragsunterlagen und in den vertraglichen Bestimmungen vorgesehen ist.
Die übermittelten Informationen nach Absatz 3 dieses Artikels dürfen höchstens ein Jahr lang gespeichert werden. Stellt der öffentliche Auftraggeber in dieser Zeit bei dem Gremium den Antrag, eine Empfehlung in einem Ausschlussfall abzugeben, kann die Speicherdauer verlängert werden, bis der öffentliche Auftraggeber eine Entscheidung getroffen hat.
(5) Der öffentliche Auftraggeber darf eine Entscheidung zum Ausschluss und/oder zur Verhängung einer finanziellen Sanktion sowie eine Entscheidung zur Veröffentlichung der damit in Zusammenhang stehenden Informationen erst nach Erhalt einer Empfehlung des Gremiums treffen, wenn eine solche Entscheidung auf einer vorläufigen rechtlichen Bewertung nach Artikel 106 Absatz 2 gründet.
(6) Das Gremium wird auf Antrag eines öffentlichen Auftraggebers nach Artikel 117 einberufen.
(7) Das Gremium setzt sich zusammen aus
- a)
- einem ständigen, hochrangigen und unabhängigen Vorsitzenden,
- b)
- zwei Vertretern der Kommission als Eigentümerin des Systems, die einen gemeinsamen Standpunkt zum Ausdruck bringen, und
- c)
- einem Vertreter des antragstellenden öffentlichen Auftraggebers.
Bei der Zusammensetzung des Gremiums wird sichergestellt, dass geeignetes rechtliches und technisches Fachwissen zur Verfügung steht.
Das Gremium erhält ein ständiges, bei der Kommission angesiedeltes Sekretariat, das für seine laufende Verwaltung zuständig ist.
(8) Für das Gremium gilt folgendes Verfahren:
- a)
- Der antragstellende öffentliche Auftraggeber verweist den Fall mit den nötigen, in Absatz 3 dieses Artikels genannten Informationen, den in Artikel 106 Absatz 2 genannten Sachverhalten und Erkenntnissen und der mutmaßlichen Ausschlusssituation an das Gremium;
- b)
- das Gremium unterrichtet den Wirtschaftsteilnehmer unverzüglich über die betreffenden Sachverhalte und ihre vorläufige rechtliche Bewertung, die möglicherweise als eine in Artikel 106 Absatz 1 Buchstaben c, d, e und f genannte Ausschlusssituation gelten und/oder zur Verhängung einer finanziellen Sanktion führen können. Das Gremium unterrichtet gleichzeitig die anderen öffentlichen Auftraggeber;
- c)
- bevor das Gremium eine Empfehlung abgibt, gibt es dem Wirtschaftsteilnehmer und den unterrichteten öffentlichen Auftraggebern Gelegenheit zur Stellungnahme. Der Wirtschaftsteilnehmer und die unterrichteten öffentlichen Auftraggeber verfügen über mindestens 15 Tage, um ihre Stellungnahme abzugeben;
- d)
- in den in Artikel 106 Absatz 1 Buchstaben d und f genannten Fällen können die in Buchstabe b dieses Absatzes genannte Unterrichtung und die in Buchstabe c dieses Absatzes genannte Gelegenheit zur Stellungnahme ausnahmsweise aufgeschoben werden, sofern aus zwingenden schutzwürdigen Gründen die Vertraulichkeit einer Untersuchung oder eines einzelstaatlichen Gerichtsverfahrens gewahrt werden muss, und zwar solange diese zwingenden schutzwürdigen Gründe zur Wahrung der Vertraulichkeit bestehen;
- e)
- soweit der Antrag des öffentlichen Auftraggebers unter anderem auf den von OLAF vorgelegten Informationen beruht, arbeitet dieses Amt gemäß der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 883/2013 mit dem Gremium zusammen, unter gebührender Berücksichtigung der Achtung der Verfahrens- und Grundrechte sowie des Schutzes von Informanten;
- f)
- das Gremium gibt seine Empfehlung innerhalb von 45 Tagen nach Erhalt des Antrags des öffentlichen Auftraggebers ab. Verlangt das Gremium zusätzliche Informationen von dem Wirtschaftsteilnehmer, wird diese Frist um bis zu 15 Tage verlängert. In hinreichend begründeten Ausnahmefällen kann das Gremium die Frist für die Abgabe seiner Empfehlung um bis zu einem Monat weiter verlängern. Versäumt es der Wirtschaftsteilnehmer, innerhalb der gesetzten Frist seine Stellungnahme abzugeben oder die verlangten Informationen zu übermitteln, kann das Gremium seine Empfehlung abgeben.
(9) Die Empfehlung des Gremiums für einen Ausschluss und/oder die Verhängung einer finanziellen Sanktion muss je nach Einzelfall folgende Angaben enthalten:
- a)
- die in Artikel 106 Absatz 2 genannten Sachverhalte oder Erkenntnisse und ihre vorläufige rechtliche Bewertung;
- b)
- eine Beurteilung, ob und in welcher Höhe eine finanzielle Sanktion verhängt werden soll;
- c)
- eine Beurteilung, ob der betreffende Wirtschaftsteilnehmer ausgeschlossen werden soll, und, sollte dies der Fall sein, einen Vorschlag für die Dauer des Ausschlusses;
- d)
- eine Beurteilung, ob die Informationen über den Wirtschaftsteilnehmer, der ausgeschlossen wurde und/oder gegen den eine finanzielle Sanktion verhängt wurde, veröffentlicht werden sollen;
- e)
- eine Beurteilung der vom Wirtschaftsteilnehmer eventuell ergriffenen Abhilfemaßnahmen.
Erwägt der öffentliche Auftraggeber eine strengere Entscheidung als die von dem Gremium empfohlene, stellt er sicher, dass diese Entscheidung unter gebührender Berücksichtigung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und der Vorschriften über den Schutz personenbezogener Daten getroffen wird.
(10) Das Gremium revidiert seine Empfehlung während des Ausschlusszeitraums auf Antrag des öffentlichen Auftraggebers in den in Artikel 106 Absatz 9 genannten Fällen oder nach der Übermittlung einer rechtskräftigen Gerichts- oder endgültigen Verwaltungsentscheidung, die den Ausschluss begründet, in den Fällen nach Artikel 106 Absatz 2 Unterabsatz 2, in denen durch die Gerichts- oder Verwaltungsentscheidung keine Dauer des Ausschlusses festgelegt ist.
Das Gremium unterrichtet den antragstellenden öffentlichen Auftraggeber unmittelbar über seine revidierte Empfehlung, und dieser überprüft daraufhin seine Entscheidung.
(11) Der Gerichtshof der Europäischen Union hat die unbeschränkte Befugnis zur Überprüfung einer Entscheidung, durch die der öffentliche Auftraggeber einen Wirtschaftsteilnehmer ausschließt und/oder eine finanzielle Sanktion gegen ihn verhängt; er kann z.B. die Ausschlussdauer verkürzen oder verlängern und/oder die finanzielle Sanktion aufheben, senken oder erhöhen.
(12) Alle nach Artikel 58 am Haushaltsvollzug beteiligten Einrichtungen erhalten von der Kommission Zugang zu den Informationen über Ausschlussentscheidungen nach Artikel 106, um prüfen zu können, ob ein Ausschluss im System vorliegt, und um diese Informationen gegebenenfalls und in eigener Verantwortung bei der Vergabe von Aufträgen im Zusammenhang mit dem Haushaltsvollzug zu berücksichtigen.
(13) Im Rahmen des Jahresberichts der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat nach Artikel 325 Absatz 5 AEUV liefert die Kommission eine Zusammenfassung von Informationen über die Entscheidungen der öffentlichen Auftraggeber nach den Artikeln 105a bis 108 dieser Verordnung. Dieser Bericht enthält auch weitere Informationen über alle Entscheidungen der öffentlichen Auftraggeber nach Artikel 106 Absatz 7 dieser Verordnung und Artikel 106 Absatz 17 dieser Verordnung sowie über alle Entscheidungen eines öffentlichen Auftraggebers, nach Artikel 105a Absatz 2 dieser Verordnung von der Empfehlung des Gremiums abzuweichen.
Die in Unterabsatz 1dieses Absatzes genannten Informationen sind unter gebührender Berücksichtigung der Vertraulichkeitserfordernisse zu erteilen und dürfen insbesondere keine Identifizierung des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers ermöglichen.
(14) Der Kommission wird die Befugnis übertragen, delegierte Rechtsakte gemäß Artikel 210 zu erlassen, um detaillierte Vorschriften über das System der Union zum Schutz der finanziellen Interessen der Union festzulegen, einschließlich einer Datenbank und standardisierter Verfahren für das System, über die Organisation und die Zusammensetzung des Gremiums, über die Ernennung und der Unabhängigkeit des Vorsitzenden sowie über die Vorbeugung und des Umgangs mit Interessenkonflikten des Vorsitzenden und der Mitglieder des Gremiums.
Fußnote(n):
- (1)
Verordnung (EU, Euratom) Nr. 883/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. September 2013 über die Untersuchungen des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1073/1999 des Europäischen Parlaments und des Rates und der Verordnung (Euratom) Nr. 1074/1999 des Rates (ABl. L 248 vom 18.9.2013, S. 1).
© Europäische Union 1998-2021
Tipp: Verwenden Sie die Pfeiltasten der Tastatur zur Navigation zwischen Normen.